Am Freitag, 4. Juni 2010, war in Wien die zweite "Anti-Israel-Demo" angekündigt. Die erste fand bereits am 1. Juni statt und zählte etwa 600 bis 800 TeilnehmerInnen, die nun zweite Demo zählte laut Polizei etwa 5.500 TeilnehmerInnen, eine meiner Ansicht nach realistische Einschätzung.
alle Fotos von Jonas Reis / flickr (CC-by-nc-sa-2.0)
Vorgeschichte, Anlass, Motive
Die Demo richtete sich erneut gegen Israel im Allgemeinen (Nachtrag: Zur Demo am 1. Juni, die u.a. zur israelischen Botschaft in Wien führte siehe dieses Youtube-Video - ein Teilnehmer führt eine "Wach auf Hitler!"-Tafel mit sich). Anlass ist bekanntlich die tödliche Enterung des Hauptschiffes der "Gaza-Hilfsflotte", einem unter türkischer Fahne fahrendem Schiffskonvoi, der Hilfsgüter direkt nach Gaza bringen wollte und somit die israelische Seeblockade de facto beenden wollte - oder im zu erwartenden Falle, dass dies nicht zugelassen würde, zumindest ein starkes Protestzeichen zu setzen. Es kam schlimmer, als es kommen musste: Bei der Enterung des Hauptschiffes durch das israelische Militär wurden die ersten, sich von Helikoptern abseilenden Soldaten von einem wütenden Mob mit Holzlatten und anderen Gegenständen angegriffen und schwer verletzt. Manche behaupten, Israel hätte bereits zuvor auf die Besatzung bzw. das Schiff geschossen, was Israel wiederum dementiert. Ein libanesischer Kameramann gibt laut der österreichischen Tageszeitung Der Standard zu Protokoll, dass die "Friedensaktivisten" (bzw. der gewaltbereite Teil unter ihnen) besagte Soldaten als Geiseln unter Deck genommen hätten, woraufhin die gewaltsame Stürmung des Schiffes mit mehreren Toten erfolgt sei. Doch all diese Details bzw. die Frage, was wirklich passiert ist, ist für viele unerheblich, da für sie in jedem Fall klar ist, dass Israel ein "Terroristenstaat" ist, den es als "imperialistisch", also unrechtmäßig existierend, zu bekämpfen und zu "beseitigen" gilt. Die Vorschläge, die derartige Israel-Gegner tätigen, reichen von "die Juden sollen doch wo anders leben" (vorgeschlagen wird gerne die USA) bis hin zu "die Juden sollen gar nicht leben" - letzteres gerne mit Verweis auf Hitler, der es "leider" verabsäumt habe, alle Juden zu vernichten - was in zahlreichen Facebook-Postings von deutschen oder österreichischen Türken zitiert wird (vgl. www.youropenbook.com, Suchwort: "Juden", bzw., weil hier nur die aktuellsten Treffer gezeigt werden, wurde hier (unter dem Namen "Islam und Antisemitismus"eine Facebook-Seite eingerichtet, die auszugsweise derartige Kommentare dokumentieren sollte; außerdem haben zahlreiche deutschsprachige TürkInnen hier eine Protest-Seite eingerichtet, um gegen diese Antisemitismuswelle türkischer Facebook-Poster zu protestieren).
Die Demo
Laut Wiener Zeitung wurden für die heute (4.6.) angekündigte Demo rund 5.000 Teilnehmer erwartet - ziemlich genau so viele, laut Polizei 5.500, waren es auch. Außerdem wurden Ausschreitungen befürchtet, zu denen es aber nicht kam. Die Sprechchöre waren zwar emotional, laut und stark israel-feindlich, aber die Stimmung war ziemlich positiv, die TeilnehmerInnen, schätzungsweise zu 95 % türkischer Herkunft, hatten sichtlich Freude an diesem "Ereignis". Die Kinder, die zahlreich mitgenommen wurden, hatten Spaß, schwenkten Türkei- und Palästina-Fahnen, die Jugendlichen übten sich in Allah-Huldigungs und Israel-Hass-Sprechchören. Und dann waren da noch einige nicht-türkische, österreichische Linke, insgesamt vielleicht 200, die mit den Türkei-Fahnen schwenkenden türkischen Demonstranten die "internationale Solidarität" beschworen. Im Konkreten klang das dann so, dass die LSR (Liga der sozialistischen Revolution) mit Megaphonen in einen Block junger patriotischer Türken abwechselnd "Kindermörder Israel" und "Hoch die internationale Solidarität" reinriefen. Ich hoffe, ich bin nicht der einzige, der hier mindestens zwei gravierende Widersprüche mit der Idee des Sozialismus bzw. der linken Idee im Allgemeinen sieht.
Weitere linke Organisationen, die den Drang verspürten, gemeinsam mit türkischen Patriot(innen) die "Internationale Solidarität" zu beschwören, "israelischen Imperialismus" zu beklagen und abwechselnd "Kindermörder Israel", "Israel Terrorist" und "Hoch die internationale Solidarität" zu schreien, waren - neben der LSR / Liga der sozialistischen Revolution - die KJÖ (Kommunistische Jugend Österreichs), Linkswende sowie ein Block Feministinnen.
Diese nicht unerhebliche Beteiligung von links (immerhin: SPÖ- oder grüne Jugendorganisationen waren nicht dabei) ist die eigentliche, erschütternde Überraschung für mich (dass die Demo generell stark antisemitisch und antizionistisch geprägt sein wird war ohnehin klar, dass es mehr um generellen Israel-Hass und Verneinung des Existenzrechts Israels geht war naheliegend, nicht zuletzt in Hinblick auf den Charakter der Demo vom 1. Juni).
Hamas, Medien, PR
Natürlich ist der blutige Ausgang der Kaperung der sechs Gaza-Hilfsgüter-Schiffe eine Tragödie und auch ein Skandal, mit dem sich Israel und womöglich auch die Weltgemeinschaft beschäftigen muss. Nicht ganz zu Unrecht muss sich Israel die Frage gefallen lassen, ob seine Elitesoldaten nicht fähig wären, ein Schiff unblutig zu übernehmen (Financial Times Deutschland). Gleichzeitig müssen sich aber internationale Sympathisanten und Unterstützer bzw. Teilnehmer der Hilfsaktion die Frage gefallen lassen, ob sie nicht etwas leichtgläubig und naiv an etwas teilgenommen haben, das von anderen Kräften gesteuert und instrumentalisiert wird. Aber vor allem kann die Rolle radikaler Kräfte bei dieser Aktion bzw. in Gaza generell (Hamas) nicht ausgeblendet werden. Dass die Hamas ganz andere Ziele hat, als das Leben der Palästinenser zu erleichtern, sollte eigentlich allen bewusst sein - wird aber aufgrund geschickter Inszenierung durch die Hamas, unter Mithilfe zahlreicher Medien gerne übersehen - die Hamas wird als Widerstandsorganisation angesehen, die für ihr Volk kämpft - und diesem "logischerweise" auch nur gutes tun will. Dass die durch den Iran finanzierte Hamas die internationalen Sympathien für das "unterdrückte Volk" bloß für den bedingungslosen Zerstörungskampf gegen Israel instrumentalisiert, wird kleingeredet bzw. einfach ignoriert.
Und dass die Hamas die Hilfsgüter, die nach der Kontrolle durch das israelische Militär nun über Ashdot in den Gaza-Streifen gebracht werden sollten, gar nicht annehmen will (derstandard.at, siehe letzter Absatz) (!), das ist selbst in kritischen Zeitungen gerade mal eine Randnotiz wert (dass auch israelische Soldaten (schwer) verletzt wurden, wird erst gar nicht erwähnt - nur die Toten und Verletzte auf dem Schiff). Die Hamas ist nur an ihrem eigenen Wohl interessiert, der Rest ist geschickte PR ("überparteiliche" oder "unabhängig" erscheinende Hilfs- oder Solidaritätsaktionen) von der sich viele Leute unreflektiert beeindrucken, ja blenden und vereinnahmen lassen.
Merkwürdige Allianz
Wenn das ganze dann noch mit latent (viele Österreicher) oder akut vorhandenem (türkische Nationalisten) Antisemitismus und -zionismus zusammenfällt, getarnt als "Kampf gegen den Imperialismus" (Israel also ein illegaler Besetzer) oder "Kampf für die Freiheit" bzw. "Menschenrechte", dann kommen derart abstruse Konstellationen zusammen, wie heute, wo türkische Nationalisten mit österreichischen Sozialisten und Feministinnen (siehe nebenstehendes Foto) gemeinsame Sache machen. Komisch findet diese Allianz keiner - schließlich gehts ja um eine Art "höhere" Sache - der Kampf gegen Israel!
Unversteckter Antisemitismus
Einen Überblick über israelfeindliche, häufig antisemitische Motive an der Demo hat porrporr (Twitter) dokumentiert (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
(1) Coladose "Israhell" (auch hier)
(2) "Terrorist Israel"
(3) "Stop Israel"
(4) "Blood Death Terror"
(5) "Boycott Israel"
(6) "Neonazi Israel"
(7) Hakenkreuz = Davidstern / +Zeichnung (auch hier)
(8) "Israel is a Cancer"
(9) "Kindermörder Israel"
(10) "Children Killer" (mit Puppe)
(11) Israel als Nazi-Krake (auch hier)
(12) "Fuck Israel / Coca Cola-Schriftzug
(13) Boycott-Aufruf / Intifada
(14) Israel-Piraterie
Links zu anderen Blogs & Medien (Auswahl, letztes Update am 8.6.10)
- Ein Schuh für Schäuble: Rassistische und nationalistische pro Palistina Demo in Wien, 4. Juni 2010
- Der Standard: Wiener Türken demonstrieren gegen Militäraktion Israels, 4. Juni
- Hans Rauscher (Kommentar) / Der Standard: Türkische Demo, 4. Juni
- Café Critique: Antisemiten außer Rand und Band, 5. Juni
- Friends of Israel: Hamas in Wien, 7. Juni (mit vollständiger Liste der 126 den Demo-Aufruf unterstützenden Organisationen)
- Die Linke, Christine Buchholz: Argumente für die Free-Gaza-Bewegung, 7. Juni
Fotos und Videos (nur eigene):
- Fotostrecke auf flickr ("Anti-Israel-Demo Wien, 4.6.2010") (71 Fotos)
- Videos auf youtube: Linke & Türken rufen "Israel Terrorist", Türken mit Riesenflagge und "Allah Bismillah"-Rufen [Anm.: "Bismillah" statt "Hisbillah", nachträglich korrigiert, 8.6.10] (im Hintergrund "Hoch die internationale Solidarität"), Linke & Türken bei "Netanyahu Terrorist"- bzw. "Israel Terrorist"-Rufen
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Rund 17.500–19.500 Menschen beteiligten sich am 3. Oktober an einer
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