Dienstag, 31. August 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 4: Räumungspraxis vor und nach 1990

Mit der Räumung der Wohlgroth endet laut Stahel (Wo-Wo-Wonige) die dritte Besetzungswelle in Zürich (nach der 80er-Bewegig 1980–1983, der Netz-Zeit 1986–1987 und die Wohnungsnot-Bewegung 1989–1993, der letzten und stärksten Besetzungswelle). In die dritte Besetzungswelle fällt auch ein entscheidender Paradigmenwechsel, der die HausbesetzerInnen-Szene nachhaltig verändert hat: nämlich der grundlegende Wandel der städtischen Räumungspraxis ab Ende 1989 und dem Stadtregierungswechsel von 1990, als die Freisinnige (FDP) und Christlichsoziale Mehrheit durch eine der Sozialdemokraten (SP) und Grüne abgelöst wurde.

Rechtliche Lage und Räumungspraxis vor 1990

Mit der Liberalisierung der Räumungspraxis der Polizei, die schon 1989, gegen Ende der bürgerlichen Stadtregierung eingeleitet wurde (vgl. Teil 3 dieser Serie, Ende der Law & Order-Politik aufgrund ihres Scheiterns) und unter der rot-grünen Stadtregierung, die seit 1990 existiert und in Neuauflagen bis heute (2010) fortgeführt wird, gefestigt und fortgeführt.

Hausbesetzung ist zwar nach wie vor nach Art. 186 des StGB als Hausfriedensbruch (auf Antrag des Hauseigentümers) strafbar, doch ab 1989 hat sich die polizeiliche Praxis, aufgrund der veränderten Vorgaben durch die Stadtregierung, der die Polizei unterstellt ist, grundlegend geändert. Zuvor wurde lediglich die Hegibach-Besetzung (Forchstraße 91/93, 29.8.1973–25.7.1974) für rund ein Jahr geduldet, in allen anderen Fällen wurde geräumt, sobald es die Polizei für nötig oder möglich hielt – in der Regel war dies binnen maximal zwei Wochen der Fall. Vereinzelt wurde auch in Zürich noch vor Anzeige durch den Eigentümer geräumt, häufig kam es zu Verhaftungen, das Vorgehen bei Räumungen war alles andere als sanft (weshalb laut Stahel ab 1982 die BesetzerInnen immer häufiger rechtzeitig vor Eintreffen der Polizei flüchteten), Häuser wurden teilweise von der Polizei selbst zur Unbewohnbarkeit "bearbeitet".

"Häuserkämpfe", wie aus anderen Städten dokumentiert, gab es in Zürich allerdings (fast) nie. Der aktivste Widerstand, der je bei einer Räumung in Zürich geleistet wurde, dürfte ebenfalls bei der Hegibach-Besetzung angewendet worden sein: Stahel berichtet von etwa zwei Dutzend BesetzerInnen und AktivistInnen, die sich auf dem Dach des Hauses verschanzten (und allesamt schließlich verhaftet wurden) und etwa 150 SympathisantInnen, die teils gewaltbereit mit Steinen sowie einem Brandsatz die Polizei bewarfen und versuchten, sie an ihrer Arbeit zu hindern. Bei allen anderen Räumungen kam es maximal zu Barrikadenbau und "Schein-Verteidigung", wie etwa bei der Räumung des besetzten Hauses an der Schmiede Wiedikon (Zurlindenstrasse, 1.11.1986–9.6.1987), wo sämtliche Fenster und Türen derart stark verbarrikadiert wurden, das schräge Dach mit Schmierseife glitschig gemacht wude, dass alle Versuche der Polizei, in das Gebäude zu gelangen (zB. Hochdruckwasserstrahl, Rammbock), vorerst scheiterten, sodass sich die Polizei schließlich mit Hilfe der Feuerwehr Zugang zum Dach verschaffte und von dort einen Eingang aufschweißte. Die BesetzerInnen, die zunächst noch anwesend waren und über die Polizei spotteten, verschwanden in der Zwischenzeit über einen unterirdischen Gang. Die Räumung dauerte dadurch etwa vier Stunden, statt üblicherweise (bei verbarrikadierten Häusern) maximal zwei Stunden.

Neubesetzungswelle und Überforderung der Polizei

Anfang 1989 erreichte das Level der Gewalttätigkeit bei Räumungen, sowohl seitens der BesetzerInnen als auch der Polizei, einen neuen Höchststand. Bei der Räumung von drei Häusern an der Zweierstrasse 47, 49 und 53 (6.4.–11.5.1989) kam es zu zwei Verletzten und einem Toten, da unmittelbar nach der polizeilichen Räumung die Abrissarbeiten begonnen wurden, ohne zuvor das Gelände fachgerecht abzusperren: Der Architekt wurde vom einstürzenden Haus getötet, eine Nachbarin wurde beim Entleeren ihres Briefkastens von einer einstürzenden Mauer getroffen. Ein Bewohner des Hauses, der sich aus Protest noch auf dem Dach befand, verletzte sich beim Sprung in ein Sprungtuch.

Bei der Räumung der Ankerstrasse 124 (Auszugsboykott, 18.3.–26.6.1989) wurde wiederum vonseiten der BesetzerInnen eine aufwändige Barrikade aus Stacheldrahtzaun und an eine komplexe Zündanlage angeschlossenen Rauch-/Knallkörpern errichtet, sodass die Polizei vor der Stürmung des Hauses erst den "wissenschaftlichen Forschungsdienst" zur Entschärfung anrücken lassen musste.

Paradigmen- und Stadtregierungswechsel ab 1989, 1990

Da Mitte des selben Jahres noch sieben andere Häuser besetzt waren, es nach jeder Räumung zu Demos kam und aufgrund einer Spitze in der Wohnungsnot (Leerstandsraten-Tief) auch so schon zu regelmäßigen Demos kam, kam es offenbar noch unter der konservativen, bürgerlichen Stadtregierung des Jahres 1989 zu einem Umdenken, das zwar nicht öffentlich breitgetreten wurde, sich aber in der Hausbesetzerszene rasch bemerkbar machte. Nicht zuletzt wird der Wohnungsnot-Bewegung, mit ihren regelmäßigen Protestveranstaltungen, Demos sowie den Hausbesetzungen, mit dafür verantwortlich gemacht, dass es bei den Wahlen von 1990 zu einem Stadtregierungswechsel kam. Die Wohnungsnot war mittlerweile ein breit bekannter Fakt, großes Thema bei Debatten und in den Medien, und die bürgerlich-konservative Wohnbaupolitik der vergangenen Jahre wurde vermehrt als gescheitert betrachtet.

Neue, liberalere Räumungspraxis und politische Vorgaben

Als 1990 die neue Stadtregierung ihr Amt antrat, wurde der bereits eingeleitete Wandel verankert. Ab nun sollte grundsätzlich kein Haus mehr geräumt werden, wenn nicht Bau- oder Abbruchbewilligungen, neue Mietverträge oder grobe Sicherheitsbedenken vorliegen. Da Eigentümer von besetzten Häusern gelegentlich versuchten, die Stadt zu täuschen (indem eine Renovation angekündigt, aber lediglich ein Abriss-Ansuchen eingereicht wurde), achtete man nun noch genauer darauf, ob vollständige Bau- oder Abbruchbewilligungen vorliegen, da die neue Stadtregierung gewillt war, Spekulanten nicht uneingeschränkt hantieren zu lassen.

Ein wichtiger Aspekt bei der Frage, ob geräumt werden kann oder nicht, ist indirekt auch das Geld. Um zu einer Abriss-Genehmigung zu kommen, muss man ein Neubauprojekt bewilligen lassen (in Zürich dürfen keine Wohnhäuser abgerissen werden, ohne, dass auf dem selben Grundstück, ein Neubau bewilligt ist). Und um ein Neubauprojekt bewilligen zu lassen, müssen umfangreiche Pläne für den Bau vorgelegt werden, die sämtlichen Anforderungen und Auflagen der Stadt gerecht werden. Dies kostet, nach Auskunft eines Architekten, mindestens mehrere zehntausend Franken (je nach Größe des Projekts), durchschnittlich etwa 30.000 bis 60.000 Franken (= ca. 23.000 bis 45.000 €). Sofern man also in Erfahrung bringen kann, ob ein Grundstückseigentümer (z.B. ein Unternehmen) Pleite ist, was durch Nachfragen oder Nachforschungen gelegentlich möglich ist, kann man die Erfolgsaussichten bzw. mögliche Dauer einer Besetzung schon von Anfang an einschätzen.

Freilich ist all dies rechtlich nicht verankert, sondern lediglich eine Praxis, um den Aufwand für die Behörden nicht unnötig für die Räumung ohnehin leerstehender Häuser, für die der Eigentümer keine bewilligten Pläne vorweisen kann, zu erhöhen: Mit der Folge eines ruhigeren politischen Klimas in der Stadt, einer friedlichen Ko-Existenz und dadurch auch einer zunehmenden Ent-Politiserung der HausbesetzerInnen, was durchaus auch im Interesse der Stadt sein kann.

Und letztlich konnte auch die neue Räumungspraxis und eine rot-grüne Stadtregierung die Räumung der Wohlgroth, der bis zu diesem Zeitpunkt in fast jeder Hinsicht größten Besetzung Zürichs (vor allem, was die Zahl der BewohnerInnen, Zahl der Gebäude und der darin befindlichen Einrichtungen sowie die Bekanntheit und Akzeptanz in der Bevölkerung betrifft), nicht verhindern, da der Eigentümer schlicht und einfach Baubewilligungen vorweisen konnte und sich von der Durchführung dieses Bauvorhabens (an einem attraktivem Grundstück neben den Gleisen nahe des Hauptbahnhofes) nicht abbringen lassen wollte.

Der Ernüchterung in der Szene nach dieser Räumung war natürlich groß. Nichtsdestotrotz existierte die HausbesetzerInnen-Bewegung nicht nur weiter, sondern etablierte sich regelrecht in der Kultur- und auch in der alternativen Konzert- und Partyszene als Fixpunkt, häufig als einziges unkommerzielles Angebot in einer der teuersten Städte der Welt. Dies war natürlich nur aufgrund der liberaleren Räumungspraxis möglich, die zwar manchen nicht weit genug geht (aber gleichzeitig vielen natürlich längst zu weit) und aus verschiedenen Perspektiven kritisierbar ist, aber letztlich doch die jahrelange Existenz von Hausbesetzungen möglich machte.

So wurde im November 1990 ein Haus in der Toblerstrasse, also in einem der teureren Wohngebiete Zürichs am Zürichberg, besetzt, das knapp neun Jahre existierte (bis 11. Mai 1999) und in diesem Zeitraum ein Fixpunkt einer mehr oder weniger alternativen Szene wurde. Doch die Toblerstrasse war erst der Anfang: Nach 1990 folgten noch viele Häuser, die über mehrere Jahre Bestand hatten. Doch dazu in einem der nächsten Teile dieser Serie...


Quelle: Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Paranoia City Verlag, Zürich 2005, S. 349-358; + eigene Recherchen
 
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