1) Wohnraumverlust: Abriss des Hauses bzw. Wohnungs-Kündigung (Mieterkampf, Auszugsboykott, teilweise politisiert mit Unterstützung aus der Linken Szene)
2) Bauprojekt: Besetzung von zum Abbruch vorgesehenen Häusern zwecks eines Straßenausbaus oder einem anderen Großprojekt (z.B.: Milchbuck-Tunnel, Straßen-Ypsilon, Tor zu Aussersihl, Rote Fabrik usw.)
Erst ab Mitte der 80er entwickelte sich eine eigenständige Hausbesetzerbewegung (-szene), die (außerhalb bestehender linker oder sonstiger politischer Netzwerke) ihre eigenen Netzwerke spann ("Netz" 1986–1987, "Infoladen", mit Unterbrechungen seit 1987, "Häuserrat" bzw. "Rat der BesetzerInnen" 1990–1993 u.a.). Diese HausbesetzerInnen-Bewegung ist inhaltlich praktisch ident mit jener der Gegenwart: Es geht um autonome, selbstverwaltete Freiräume zum Wohnen, Arbeiten und/oder für kulturelle Nutzung. Seit März 1989 gab es keinen Tag mehr, an dem in Zürich nicht mindestens ein Haus besetzt war! (Stahel, S. 329) Zeitgleich endete auch die bis dahin vorherrschend Null-Toleranz-Politik der Stadt. Mit der erneuten Zuspitzung der Wohnungsnot um 1990 gelang es der Polizei schlicht nicht mehr, mit den Räumungen nachzukommen. Als 1990 eine rot-grüne Stadtregierung gewählt wurde, begann eine neue Ära der Hausbesetzergeschichte: Kein Haus sollte mehr geräumt werden, solang ein (Um-/Neu-)Bau- oder Abrisstermin nicht unmittelbar bevorsteht.
All das ist Gegenstand des dritten Teils meiner Serie über Zürichs HausbesetzerInnen-Bewegung von damals bis heute. Hier geht es um die Zeit nach der 68er-Bewegung bis zur Zeit nach der dritten von (angeblich nur) drei Hausbesetzungswellen in Zürich, also von ca. 1973 bis 1993.
Die 70er-Jahre - eine Phase zwischen Globus- (1968) und Opernhauskrawall (1980)
Nachdem sich "die Szene" Anfang der 70er-Jahre, nach ersten Erfolgen (Paradigmenwechsel in Teilen der Gesellschaft, auch in der städtischen (Wohn-)Baupolitik, nach den Ereignissen von 1968 und in den Jahren danach), in verschiedene Strömungen aufspaltete, spitzte sich die Lage Ende der 70er-Jahre wieder zu: Alternative und Autonome prallten wieder auf Autoritäten und Polizei. Anlass war, dass das städtische Jugendzentrum nicht einmal zwei Jahre Bestand hatte (wurde im Winter 79/80 geräumt) und dass mit der Schließung des "Polyfoyers" der letzte nicht-kommerzielle Raum für die Jugend in Zürich geschlossen wurde, während gleichzeitig hohe Subventionen für Theater und Opernhaus beschlossen wurde.
Gelegentlich kam es nun zu "Konzertstürmungen" - man verschaffte sich illegal und organisiert Zutritt zu (teuren) Konzerten um gegen das Fehlen von unkommerziellen Angeboten für Jugendliche zu protestieren. Die Spitze der neuen Protestwelle wurde am 30. Mai 1980 erreicht, als es nach einer von der "Aktionsgruppe Rote Fabrik" organisierten Demo vor dem Opernhaus (um auf die Volksabstimmung zur Errichtung eines alternativen Kulturzentrums in der ehemaligen, gleichnamigen, seit 1973 temporär für kulturelle Zwecke genutzte Fabrik aufmerksam zu machen) zur heftigsten Straßenschlacht mit der Polizei seit 1968 kam.
Zürich wird Weltstadt - Politik der Integration und Förderung der Subkultur
Erst gegen Mitte der 80er-Jahre änderte die Stadt auch ihre Politik im Umgang mit "Jugendunruhen" und Forderungen von subkulturellen Gruppen. Das Image der Bankenmetropole Zürich war bereits in Mitleidenschaft gezogen worden, die Stadt wollte nicht noch öfter mit Jugendkrawallen und Straßenschlachten in die Schlagzeilen geraten, man begann eine "Politik der Integration" mit Förderungen für subkulturelle Aktivitäten, um die Lage zu befrieden. Dies führte freilich dazu, dass Zürich heute überhaupt jene multikulturelle Weltstadt ist, als die es sich gerne selbst darstellt. Selbst die führenden Tageszeitungen bestätigen diesen Eindruck. Der Tages-Anzeiger schrieb zum "20-Jahr-Jubiläum" der Opernhauskrawalle: "Ohne 'Bewegung' wäre die Stadt nicht so kulturfreundlich, liberal und lebenslustig geworden, wie sie es heute ist" (30.5.2000). Die "Bewegung" der 68er und 80er-Jahre, die im Sinne des Philosophen Henri Lefebvre "die ganze Stadt" ("das Recht auf die Stadt"/"le droit à la ville") als "offensive Strategie" und autonome Räume als "Inseln" in der Stadt als defensive Strategie verfolgte, sah sich nun mit dem "Gewinn" dieser autonomen Inseln natürlich auch dem "Problem" gegenübergestellt, auf diese Inseln abgedrängt zu werden.
Gleichzeitig befand sich die "Bankenwelt" immer noch in Expansion. Der Anteil der Erwerbstätigen im Zürcher Bankensektor erhöhte sich zwischen 1965 und 1991 von 9,6 auf 26,1 % - mit der Folge, dass der Druck auf die Innenstadtnahen Wohnquartiere weiterhin zunahm, die "Stadtflucht" (als Folge steigender Mieten und Raumknappheit) weiterhin akut blieb. Mit diesem Druck auf Wohn- (und Lebensraum) blieben auch weiterhin, neben den vereinzelten subkulturellen, autonomen Freiräumen, genügend Anlässe bestehen, um gegen die Stadt und (deren) von Wirtschaftsinteressen gesteuerte Politik zu protestieren, den Wohn- und Lebensraum Stadt zu verteidigen.
Hausbesetzungen: Frühe Phase: die 70er
Ausgehend von den Forderungen nach einem Autonomen Jugendzentrum, dem Globus-Krawall und anderen Umbrüchen des Jahres 1968 entwickelte sich in Zürich die Hausbesetzer(Innen)-Szene.
Die meisten "Besetzungen" der 70er-Jahre waren noch Mieterkämpfe - also Mieter, deren Mietvertrag gekündigt wurde, die sich aber weigerten, auszuziehen. In dieser Phase war der "Kampf" um Wohnraum auch noch stark von der Idee des Klassenkampfes und der Perspektive der Arbeiter geprägt. Daneben gibt es auch noch jene "Besetzer aus dem Untergrund" wie die "Lone Stars", heute "Hell's Angels", kriminelle Motorrad-Gangs, die in Abbruch-Häusern schlafen und oft weiterziehen. In einer Biografie über "Tino, der König des Untergrunds", wird davon erzählt, dass die "Wilden und Halbstarken" schon "Kommunarden und Hausbesetzer" waren, "bevor die Studenten den Begriff erfanden" (zitiert nach Stahel, S. 320). Für eine "gemeinsame Sache" einer Bewegung waren die Rocker aber nicht zu haben: Ganz im Gegenteil, ließen sie sich mitunter auch von Hausbesitzern, die ihre Mieter (zwecks Abbruch, Neubau, Spekulation etc.) loshaben wollten, in leeren Wohnräumen einquartieren, um die übrigen Bewohner und die Nachbarschaft einzuschüchtern. Abgesehen davon gab es wohl kaum Interesse von Seiten der "Bewegig" derartige Bündnisse einzugehen - aber als Hausbesetzer müssen sie nunmal erwähnt werden.
--> Venedigstraße (Tessinerplatz), 1. April – 14. April 1971
Als erste "politisch motivierte Hausbesetzung im grossen Stil" nennt Stahel die Besetzung von sieben Häusern am Tessinerplatz, an der Venedigstraße, am 1. April 1971. Hierbei ging es allerdings, eher im Geiste des "Mieterkampfes", um die Verhinderung des Gebäudeabrisses. Zu den "kämpfenden" Mietern gesellten sich allerdings zahlreiche Sympathisanten, die den Abwehrkampf gegen den Abriss in einen stadtpolitischen Kontext stellten: als Beispiel für die schwachen Rechte der MieterInnen und die Wohnraumzerstörung der Stadt (häufig zugunsten größerer Straßen, ein Schicksal, das auch für heute so populäre Rote Fabrik vorgesehen war, wären da nicht die Proteste gewesen). "Gebracht" in dem Sinn, dass der Abriss verhindert werden konnte, hat es letztlich, nach zwei Wochen Besetzung, nichts. Doch es wurde ein Weg des lautstarken Protests gegen diese Politik der Stadt eingeschlagen, der auf viel Unterstützung aus der Bevölkerung zählen konnte. Es entstanden zudem verschiedene Quartiergruppen, die weitere Protestaktionen dieser Art vorbereiteten und initiierten.
--> Forchstraße 91/93, 29. August 1973 – 25. Juli 1974
So kam es 1974 an der Forchstraße beim Hegibachplatz zur dauerhaftesten Besetzung der 70er-Jahre. Ziel war es, die lokale Bevölkerung in den Mieterkampf einzuführen und zu mobilisieren, sowie einen "Markstein" in der Geschichte des Mieterkampfes und der Jugendbewegung im Raum Zürich zu setzen. Interne Differenzen, Probleme des Zusammenarbeitens (es wohnten nur wenige in dem Haus, die meisten hatten eine Wohnung), schwächten die AktivistInnen jedoch, ein Stundenplan hatte die Anwesenheit von "Besetzern" zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit lebten immer mehr "Freaks" (so wurden damals laut Stahel Personen ohne geregelten Tagesablauf, die häufig Drogen konsumieren, genannt) im Haus, es kam zu willkürlichen Sachbeschädigungen (im Alkohol- und/oder Drogenrausch) und "zu Hause" lebende AktivistInnen hatten immer weniger vor Ort zu sagen - entsprechend sank die Akzeptanz in der Nachbarschaft.
Neben diesen "Kinderkrankheiten" am Anfang der Hausbesetzerbewegung gab es, als es nach 11 Monaten zur Räumung kam, auch (aus heutiger Sicht erstaunlich?) starken Widerstand: 23 Personen verschanzten sich auf dem Dach, wurden natürlich verhaftet und vor Gericht zu vergleichsweise harten Haftstrafen von 28 Tagen bis zu sechs Monaten verurteilt (Delikte vermutlich Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Körperverletzung - Hausbesetzung an sich ist schließlich kein eigenes Delikt).
Die Ernüchterung nach 11 Monaten Besetzung war in der "linken Szene" groß, die Zersplitterung der verschiedenen beteiligten politischen Strömungen war zu groß, keine konnte die "Vorherrschaft" für sich beanspruchen, weswegen die ganze Sache auch keine bestimmte Richtung hatte.
Nach anderen erfolglosen Besetzungen, die nach üblicherweise ca. 2 Wochen geräumt wurden und häufig gegen den Hausabriss zwecks Straßenbauprojekten gerichtet war (Milchbucktunnel, Schnellstraßen-Ypsilon) nahm die Zahl der Besetzungen in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre stark ab, um ab 1979/1980 wieder zuzunehmen.
Die 80er-Bewegig: Zürichs Hausbesetzer professionalisieren sich
Thomas Stahel sieht die Entwicklung der Zürcher Hausbesetzungen von 1980 bis 2005 (alles vor 1980 muss wohl als prä-historische Hausbesetzerphase bezeichnet werden) in drei Wellen:
1) die 80er-"Bewegig" (1980 bis 1983)
2) die "Netz"-Zeit (1986 bis 1987)
3) die Zeit nach der Wohnungsnot-Bewegung (1989 bis 1993)
"Startschuss" für die 80er-Bewegig und ihre Hausbesetzungen war zweifellos der Kampf um die Rote Fabrik, der in der Straßenschlacht vom 30. Mai 1980 seinen Ausdruck und Ausgangspunkt fand.
Quasi "Vorbote" einer neuen, im heutigen Sinn "modernen" Hausbesetzerwelle, die das Schaffen eines selbstverwalteten, autonomen Kultur- und Wohnraumes zum Ziel hatte, war 1979 das Komitee für ä wohnliches Züri, das im Sommer 1979 gleich mehrmals ihr Glück versuchte:
– 16. Juni – 18. Juli 1979: Nachbarhäuser Stampfenbachstrasse 109, 111, Wasserwerkstrasse 14, Walter-Weg (-Steig) 3, 5
– 19. – 21. Juli 1979: Haus in der Zollstrasse
– 22. Juli – 8. August 1979: Kreuzbühlstrasse 16
– 8. Juli (Druckfehler? --> 8. August?) 1979: Hufgasse 7
Geprägt von Hausbesetzungen in Berlin und Amsterdam, über die in Szene-Blättern berichtet wurde, begann sich auch die Bewegung rund um die Rote Fabrik (sowie darüber hinaus) zu organisieren und rief ab März 1981 zu regelmäßigen Vollversammlungen im Volkshaus und ab 1. April 1981 zu einer Reihe von Hausbesetzungen auf: die erste große "Enteignungs"-Offensive, Auftakt der ersten großen Besetzungs-Welle laut Stahel. Binnen zwei Monaten ab dem 1. April 1981 wurden gleich viele Hausbesetzungen gezählt wie im gesamten Zeitraum 1971 bis 1978.
Neu ist auch, dass zahlreiche stille Besetzungen stattgefunden haben bzw. erstmals überliefert sind: So etwa die Häuser Hellmutstrasse 5, 7, 9 und 15 ("Hellmi", 10. bis 31. November 1979, ging in einem legalen Wohnprojekt auf), Sihlamtstrasse 15-17 (April 1980, ging ebenfalls in legalem Projekt auf), Ecke Agnes-/Zypressenstrasse (irgendwann 1980) u.a.
Das Klima war, aufgeheizt durch die Protestaktionen der Jugend mit dem bekannten Höhepunkt der Opernhauskrawalle, repressiv, die Polizei versuchte stets rasch, Hausbesetzungen zu beenden – doch die BesetzerInnen ließen sich dadurch vorerst nicht einschüchtern, sie rechneten ohnehin damit. Die immer regelmäßigeren Polizeieinsätze zu Hausräumungen machten auch die Medien aufmerksamer gegenüber dieser Entwicklung, die "in der öffentlichen Wahrnehmung immer deutlicher zu Manifestationen gegen die städtische Wohnpolitik" wurden, so Stahel.
Gleichzeitig kamen auch Zweifel innerhalb der Szene auf, da Hausbesetzungen als politisches Signal zwar gemeinhin als sinnvoll erachtet wurden, doch wenn die Politik diese Signale nicht hören will und die Polizei rücksichtslos zur Bekämpfung eingesetzt wird, führt dies, nach Ansicht der Skeptiker, auch zu keiner Lösung oder Erfolgen. Selbst, wenn manche Häuser mehrmals hintereinander, jeweils nach einer Räumung, (wieder)besetzt wurden, änderte sich nichts an dem konsequenten Vorgehen der Stadt und ihrer Polizei. So "versandete" die erste große Hausbesetzerwelle zu Beginn der 80er-Jahre bald und endete in einer spektakulären Scheinbesetzungsaktion von 18 Häusern am 1. Mai 1983.
Von da an bis 1986 sorgte lediglich die Besetzung der Badenerstraße 2 am Stauffacher, einem zentralen Platz in der Stadt, vom 9. bis 12. Januar 1984, für (mediales, öffentliches) Aufsehen. Das Haus befindet sich direkt am Fluss Sihl und trennt die "City" (das überwiegend kommerziell und für Geschäftsflächen genutzte Innenstadtgebiet, das aufgrund von Banken- und Immobilieninteressen einen ständigen Drang nach Ausdehnung verspürt) von Aussersihl und wird daher auch als Tor zu Aussersihl bezeichnet. Bei dieser an und für sich kurzen Besetzung konnte eine große Mobilisierung der Bevölkerung erreicht werden, was auf die (gerade beschriebene) "strategische Lage" der Liegenschaft zurückgeführt wird. Es gab zahlreiche Solidarisierungsbekundungen, Medien und Stadtparlament beschäftigten sich mit dem "Fall". Darüber hinaus gab es verschiedene Quartiergruppen, die sich mit der Baupolitik (=Abriss alter Häuser, verdichtete Neubauten) am "Tor zu Aussersihl" beschäftigte.
Zweite Hausbesetzungswelle: Vom "Teil" der Bewegung zur eigenständigen Bewegung
Stahel nennt jene Besetzungswelle, die ab 1986 Zürich "heimsuchte", als eigentliche Geburtsstunde einer eigenständigen Hausbesetzerbewegung. Bis dahin waren Hausbesetzungen lediglich Teil einer gesamtheitlicheren Protestkultur – sei es gegen Straßenprojekte, Abriss- und Neubauprojekte oder als Begleiterscheinung des Klassen- oder Mieterkampfs sowie von Demonstrationen für autonome Jugend- und Kulturzentren.
Mit dem "Netz" verfügte diese Welle über eine Art "Dachverband", ein Sammelbecken der Hausbesetzer, das sich für kollektiven Wohnraum stark machte. Das "Netz" diente der Vernetzung, der gegenseitigen Hilfe, dem Erfahrungsaustausch, Aufzeigen politischer und kapitalistischer Zusammenhänge usw. Das Netz sei als Teil einer defensiven Hausbesetzerstrategie zu sehen, so Stahel, da sie sich der Verteidigung von besetzten Häusern verschrieb und offensive Ansätze, wie die Mobilisierung der Bevölkerung (aufgrund der Erfahrungen früherer Besetzungen) hintanstellte. Verankert war das Netz vor allem in den unter Auszugsboykott stehenden Häusern an der Schmiede Wiedikon (Zurlindenstrasse, 1. November 1986 bis 9. Juni 1987), Höschgasse 72–78 und in der Wohngemeinschaft Dreieck (ein kleines, dreieckiges Grundstück mit mehreren Häusern, das heute noch, legal, als Wohnprojekt existiert). Nach der Räumung der unter Auszugsboykott stehenden Häuser verlor das Netz an Bedeutung. Ihr Ende kam, nachdem sich rund um die Besetzung der "Annaburg", einem leerstehenden Gasthaus am beliebten Ausflugsziel Uetliberg, das acht Tage besetzt wurde und zu einem "autonomen Ausflugsziel" hätte werden sollen, ein interner (lange schwelender, nie ausdiskutierter) Konflikt entzündete, der die Gruppe spaltete und auflöste. Am Abend vor der Räumung gab es eine Vollversammlung mit etwa 100 Teilnehmenden, bei der es nicht darum ging, "einander zuzuhören", sondern jeder bloß zu Wort kommen wollte (so wird ein Teilnehmer in der Szene-Zeitschrift Machbar am 28.7.1989 zitiert). Vor allem Frauen fühlten sich bei diesem "schlechten Diskussionsklima" regelmäßig von sich selbst behauptenden Männern übergangen.
Zu Silvester 1987 war kein einziges Haus in Zürich mehr besetzt. Einziges Überbleibsel dieser "zweiten Welle" ist der Infoladen für Häuserkampf, der im Haus an der Schmiede Wiedikon gegründet wurde und ab April 1988 auf dem Kanzlei-Areal wieder aufnahm. Nach der Schließung des Kanzleizentrums 1991 wurde der Infoladen, respektive das "Häuserkampf-Archiv", privat weitergeführt und erst 2001, im Rahmen der Besetzungs-Aktion Egocity (Badenerstraße 97), wieder öffentlich zugänglich gemacht. Anschließend wurde daraus der Infoladen Kasama, der heute noch existiert und einen wichtigen Treffpunkt und Informationsdrehscheibe in der Szene darstellt.
Dritte Welle: Wohnungsnotbewegung
1988 wurde ein Haus besetzt, im Herbst des selben Jahres sammelte sich wieder eine Szene. Die nach der Auflösung des Netzes entstandene Informations- und Diskurs-Lücke wurde im Herbst 1988 durch die stadtpolitischen Aktionswochen Città Frontale des Ssenter for Applied Urbanism (SAU) vorübergehend geschlossen. SAU war ein Netzwerk von Geographiestudenten, die sich der unmittelbaren Erforschung der in Zürich stattfindenden urbanen Entwicklungen und den Widerständen dagegen verschrieb. Die Aktionswoche fand in der Roten Fabrik statt und zog zahlreiche Interessierte aus und von außerhalb der (ehemaligen) Bewegung, der Szene, an.
Die Besetzungen konzentrierten sich nun verstärkt auf die Kreise 4 und 5, nachdem zuvor keine Konzentrierung auf einen bestimmten Stadtteil festzustellen war.
Zentraler Anfangspunkt der neuen, und laut Stahel stärksten, Besetzungs-Welle war das Haus Köchlistrasse 22, das am 18. März 1989 besetzt wurde. Das Haus entwickelte sich rasch zu einem offenen Treffpunkt und Wohnort für unterschiedlichste Personen, und als es nach 20 Tagen geräumt wurde, waren bereits zwei weitere Häuser "enteignet" (besetzt) und drei im Auszugsboykott. Seit dieser Besetzung bis zum Erscheinen von Stahels Buch, 2005, gab es keinen einzigen Tag mehr, an dem in Zürich nicht zumindest ein Haus besetzt war (!).
Die Flut der Besetzungen ließ dieses Mal nicht mehr nach. Stahel führt dies darauf zurück, da die Wohnungsnot größer als je zuvor war (vgl. Teil 1 dieser Serie) und dass immer mehr Besetzer aus Schichten kommen, die nichts mehr zu verlieren haben und daher Häuser besetzen, weil sie schlicht nicht anders können, egal, wie rasch diese wieder geräumt werden. Die bis dahin geltende "Null-Toleranz-Politik" gegenüber HausbesetzerInnen war nicht mehr haltbar. Ein "sanfter" Wandel der städtischen Politik setzte zwangsläufig ein.
Dieser Wandel wird von Stahel am Fall der Besetzung der Limmatstrasse 215 festgemacht. Dieses Haus war nicht nur ungewöhnlich lange 15 Monate besetzt, sondern die Stadt suchte auch das Gespräch mit den Besetzern. Gemeinsam mit dem Besitzer der Liegenschaft wurde über mögliche Lösungen diskutiert: die Stadt war kompromissbereit, der Eigentümer nicht.
Mit dem Häuserrat entstand im April 1989 ein neues Netzwerk zwischen von Räumung bedrohten Häusern, das inhaltlich ähnlich wie das "Netz" ausgerichtet war. Dieser gab gelegentlich Pressekonferenen, ab 1990 unter dem Namen "Rat der BesetzerInnen", die letzte 1993.
Mit dem rot-grünen Wahlsieg von 1990 erfüllten sich einige Hoffnungen auf eine Entspannung der Situation. Räumungen wurden ab nun erst unmittelbar vor Baubeginn auf einer besetzten Liegenschaft durchgeführt. Die Besetzungen hielten nun länger, die Gesamtzahl der besetzten Häuser pro Jahr ging aufgrund seltenerer Übersiedlungsnotwendigkeit zurück, gleichzeitig erreichte die Zahl der gleichzeitig besetzten Häuser im Mai 1992 mit 16 besetzten Häusern ihren
Der Rückgang der Neu-Besetzungen ab Mitte 1991 wird also zum einen auf die tolerantere Räumungspraxis der Polizei unter einer rot-grünen Stadtregierung zurückgeführt, zum anderen auf eine leicht entschärfte Situation am Wohnungsmarkt und zuletzt auch darauf, dass sich Teile der radikalen Linken aus dem Häuserkampf zurückzogen, zum Teil auch aufgrund der Erfahrungen mit der Wohlgroth-Besetzung, die von Mai 1991 bis September 1993, bevölkerte zeitweise über 100 Bewohner, absorbierte einen Großteil der Energie der Hausbesetzer-Szene und wurde schließlich spektakulär geräumt (für mehr Infos --> Wikipedia).
Die Räumung der Wohlgroth wird von Stahel auch als Schlusspunkt der dritten, und nach seiner Ansicht letzten, Besetzungs-"Welle" angesehen. Über die Entwicklungen nach 1993 wird es in einem der nächsten Teile dieser Serie gehen.
- Quelle: Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Paranoia City Verlag, Zürich 2005, S. 66-70, 319-331
1 Kommentar:
Increadible I cannot think that this can be true
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