Dienstag, 23. August 2011

It's capitalism, stupid! Oder die Unfähigkeit der westlichen Gesellschaft zur Gesellschaftskritik

Schön langsam nervt's echt, dieses "Was ist bloß los mit der Welt?"-Getue überall. Warum krachen die Börsen? Warum können die Staaten ihre Schulden nicht mehr bezahlen? Warum die Menschen auch nicht? Warum sind die Mieten so hoch, die Löhne so niedrig? Warum die Rechten so stark und die Kids in den Wohnsilos so brutal und unanständig?

Dann gehen die Menschen zu Millionen auf die Straßen: in Madrid, Barcelona, Athen, Tel Aviv, London, Lissabon, Vancouver, Stuttgart ... und was tun sie? Sie plappern (zumindest in der "westlichen Welt") genau das gleiche nach: "Ach, wir wissen auch nicht so ganz, was eigentlich los ist. Wir sind halt unzufrieden, aber sollen doch die anderen überlegen, was man besser machen kann."

Die ganze Welt steht vor einem brennenden Wald und protestiert dagegen, aber auf die Idee, ihn zu löschen, kommt niemand!

Dabei liegt doch alles auf der Hand, die ach so schlechten Medien präsentieren täglich neue Zahlen und Statistiken, führen Interviews mit Experten (die sich auch fein raus halten, mehr als nur Symptombekämpfungen vorzuschlagen), machen Reportagen und zitieren aus einschlägiger Weltwirtschaftskrisen-Fachliteratur, um dann am Schluss zum erkenntnisreichen Ergebnis zu gelangen: "Ach ne, sowas blödes aber auch."

Rechts und Links = alles die selbe Scheiße?

Warum ist das so? Ich denke, auch diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: zum einen pure Ahnungslosigkeit und Verblendetheit (Stichwort: Leistungsgesellschaft - wenn sich alle nur genügend anstrengen werden uns "die Märkte" ein schönes Leben besorgen - ergo strengen wir uns derzeit offenbar nicht genug an), zum anderen Feigheit. Feigheit davor, "linkes Gedankengut" auszusprechen. Warum sollte man sich davor scheuen? Ganz einfach! Rechts und links sei ja die selbe Scheiße, wird einem aus der supersauberen Mitte permanent entgegengepredigt, und jeder, der linkes Gedankengut ausspricht, macht sich zum "Ziehvater" des Linksextremismus. So das un(?)ausgesprochene Dogma im Westen. Und überhaupt: Die Begriffe Rechts und Links seien ja sowas von oldschool und aus der Mode, diese einfache Differenzierung von Weltbildern sei in der heutigen komplexen Welt weder möglich noch sinnvoll.

Der unangenehme Nebeneffekt davon ist, das man nur schwer Argumente gegen Rechts vorbringen kann, wenn linke Argumente quasi "verboten" sind. Und wer es doch wagt, vor einer breiten (Medien)-Öffentlichkeit linke Gedanken auszusprechen, der wird eben - ihr habt es erraten - als Kommunist, Träumer, Spinner oder - noch besser! - Terrorist dargestellt. Daran wird sich auch so lange nichts ändern, als die Menschenmassen auf den Straßen sich weigern, Position zu beziehen. Nichtsdestotrotz sind die "apolitischen" (zumindest die Demonstrierenden selbst glauben daran) Demonstrationen überall in der westlichen Welt der erste wichtige und richtige Schritt in die richtige Richtung. Würde jemand zu einer "linken" Demo aufrufen, würden alle Café Latte-Prekariats-Bobos lieber noch ein paar unbezahlte Überstunden drauflegen, als sich darüber zu empören, dass ihre Miete im Vergleich zum Vorjahr um über 30 % gestiegen ist (so der Schnitt in Tel Aviv).

Soweit die Einleitung. Und jetzt kommen die Antworten, auch wenn es ziemlich "uncool" ist, in der heutigen Zeit Antworten auf die brennenden Fragen zu geben - noch dazu, wenn die Antworten so einfach sind. Ich mach es trotzdem, denn wie gesagt, schön langsam wirds mir zu blöd, wenn nach 3 Jahren Wirtschaftskrise zwar schon alles gesagt ist (und immer konkreter wiederholt wird), aber die einzelnen Teile des Puzzles teils absichtlich, teils fahrlässig, nicht und nicht zusammengesetzt werden.

Die Teile des Puzzles zusammensetzen: Rechts und Links unterscheiden

Zuerst einmal noch etwas zu rechts und links. Es ist mitunter erstaunlich, welch treffsichere Analysen und Kommentare sich in österreichischen Zeitungen zur Wirtschaftskrise, ihren Ursachen und Folgen finden lassen - ohne ernsthaft beachtet zu werden (die Gründe dafür hab ich oben bereits erläutert - alles, was nach "links" riecht, wird verteufelt oder zumindest ignoriert). So findet sich im Standard vom 20./21. August d.J. anlässlich von Charles Moores (ein konservativer Journalist des britischen Daily Telegraph) im Feuilleton aufsehenerregenden Zitats ("Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat") ein Verweis auf eben jene "Rechts-Links-Debatte", die bereits vor bzw. seit langem geführt wurde/wird. Dabei wird der Philosoph Norberto Bobbio zitiert, der die Sinnhaftigkeit einer Differenzierung zwischen Rechts und Links auch in der heutigen Zeit betont. In "Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung" fechtet er die Behauptung an, "dass das Links-Rechts-Schema nach Meinung vieler die Realitäten der zunehmend komplexeren Gesellschaften nicht mehr zu erfassen vermochte. Dem hielt Bobbio entgegen, dass ein guter Teil des menschlichen Wissens entlang großer Unterscheidungspaare organisiert ist. Auch Links bzw. Rechts zählt zu diesen 'großen Dichotomien', und an die Sinnhaftigkeit der Links-Rechts-Dyade machte er sich in seinem Buch. Er setzte sich mit der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auseinander, von der Bobbio letztlich doch die wesentlichen Unterschiede in der Dyade herleitet: Rechte Politik orientiert sich an Tradition und Hierarchie, linke Politik an Gerechtigkeit und Gleichheit. Linke Politik zielt auf eine 'horizontale und egalitäre Vision' von Gesellschaft. Dabei kommt es aber sehr auf einen Unterschied zwischen 'natürlicher und sozialer Ungleichheit' an, wodurch eine weitere Facette der Dichotomien erkennbar wird: Links und Rechts stehen jeweils anders akzentuiert Natur und Geschichte gegenüber. Beide Lager entwickeln dabei ständig eine Tendenz zu Extremismen, die sich häufig treffen: Sie sind antidemokratisch, weil sie ihren Standpunkt absolut setzen. Wegen der schlechten Erfahrungen mit den Radikalpositionen tendierten zuletzt fast alle Kräfte zur Mitte." (zitiert aus: "Philosoph Bobbio analysierte die Links-Rechts-Dyade", Der Standard, 19. August 2011, Bert Rebhandl) - dies trifft auch in Österreich auf alle Parteien zu - außer die FPÖ, die weiter nach rechts driftet und damit, wie man sieht, sehr erfolgreich ist. Die einzige Partei, die (vermutlich nicht intellektuell, sondern eher instinktiv) die "richtigen" Schlüsse aus diesen Erkenntnissen gezogen hat. Solange alle anderen Parteien in die Mitte drängen und lieber Speichel und Spindel lecken, anstatt Farbe zu bekennen, wird die FPÖ damit auch weiterhin Erfolg haben, alle Skandale hin oder her.

Und so komplex ist der gesellschaftliche Sachverhalt jetzt auch wieder nicht, als dass man zu oben zitierten Unterscheidungen nicht fähig sein könnte! Also bitte, Leute, mehr Mut zur Erkenntnis!

Also, wo ist das Geld? Na, das wissen wir doch alle!

Und jetzt das eigentliche Thema: Die einfachen Antworten auf die ach so komplexe und unverständliche Welt der Wirtschaft, Politik und sozialen Ungerechtigkeiten ...
Zu den eingangs aufgeworfenen Fragen bezüglich der Ursachen der hohen Verschuldung von Menschen und Staaten, den hohen Mieten, den niedrigen Löhnen etc. muss man ja auch einmal die täglichen Meldungen neuer "Rekordgewinne" bei Banken, Investmentgesellschaften, Großkonzernen, Marken- und Luxusartikelherstellern gegenüberstellen - und man wird sehr sehr schnell und ganz einfach auf jene Gedanken kommen, die den Ausweg aus der permanenten "Krise" anzeigen: Stichwort "Verteilungsgerechtigkeit". Je höher die Gewinne der Unternehmen, desto geringer die Löhne der Arbeitenden. Je höher die Gewinne der Banken, desto höher die Verschuldung der Schuldner.

Was ist also meine "Aufgabe" als Bank, um höhere Gewinne zu machen? Die Schulden der anderen erhöhen! Und wie geht das? Rating-Agenturen! Hierzu der Exekutivdirektor der Europäischen Bank für Wideraufbau und Entwicklung, Kurt Bayer, in seinem Falter-Kommentar mit dem Titel "Entmachtet endlich die Finanzmärkte!" (Falter 32/11, 10. August 2011, S. 6 f.):
"Die Politik rühmt sich ihrer langwierig und unzureichend gefassten Beschlüsse und jammert, dass die gemeinen Finanzmärkte noch immer nicht zufrieden seien. Diese treiben die für Staatsschulden zu zahlenden Zinsen in schwindelnde Höhen und stufen dann Länder als zu risikoreich herab, weil sie ihre Schulden angesichts der hohen Zinsen und des darniederliegenden Wirtschaftswachstums nicht zahlen könnten, und treiben damit die Zinsen noch weiter hinauf: ein Teufelskreis."
Ein von Banken, Investoren und Rating-Agenturen Hand in Hand organisierter, abgesprochener, beabsichtigter und gesteuerter Teufelskreis, wohlgemerkt! Aber um das nicht so konkret auszusprechen sagt man lieber: "Die Märkte"!

eine sehr aufschlussreiche Grafik zur Einkommensverteilung (dargestellt wird der Anteil des bestverdienenden Prozentes der arbeitenden Bevölkerung am Gesamteinkommen eines Landes) liefert ausgerechnet die Neue Zürcher Zeitung ("Einkommenszuwächse nicht nur für die Reichen" NZZ, 2. August 2011, S. 22). Sehr gut kann man hier erkennen, wie nach einer Phase der Angleichung der Einkommensverteilung ab der Reagan/Thatcher-Ära (die die Liberalisierung der Finanzmärkte eingeleitet haben) die Ungleichheit wieder zunimmt. An der Spitze dieser Entwicklung, wenig überraschend, die USA und Großbritannien. Wann kommt es eigentlich in den USA zu den nächsten "Konsumkrawallen"? Wohl nur eine Frage von wenig Zeit ...

(zum vergrößern auf Grafik clicken)

Noch deutlicher wird im Falter ("Staatsverschuldung = Bankrotterklärung", 31/11, 3. August 2011, S. 6 f.) der Ökonom Stephan Schulmeister:
"Mainstream-Ökonomen differenzieren nicht zwischen den unterschiedlichen Interessen von Realkapital und Finanzkapital, ebenso wenig wie zwischen dem unterschiedlichen Verhalten der Akteure auf Güter- und Finanzmärkten. Die Folge: Der neoliberale Mainstream legitimiert mit seinen Modellen die Interessen eines diffusen Gesamtkapitals im Konflikt mit jenen der Arbeit. Hauptfeinde sind: Gewerkschaft und Sozialstaat. Dass die Finanzakrobaten den Interessen der Unternehmen unvergleichbar mehr schaden, bleibt ausgeblendet. Die Entfesselung der Finanzmärkte ist ja ein Hauptziel der neoliberalen Konterrevolution Ende der 60er-Jahre. [...] Die Staatsschuldenkrise in den USA und in Europa signalisiert die finale Phase in der Implosion des Finanzkapitalismus. Erfolgt die Entwertung des fiktiven Staatsanleihekapitals durch Teilbankrott oder Hochinflation (wie regelmäßig in der Wirtschaftsgeschichte), so werden die Folgen ziemlich verheerend sein. Der einzig erträgliche Ausweg - eine grundlegende Änderung der "Spielanordnung" - scheitert an der Lernschwäche der Eliten: Ärzte, deren Therapie Teil der Krankheit ist, verstärken zumeist die Dosis."
ergo: die Implosion ist de facto unaufhaltbar, ja sie beschleunigt sich zunehmend. Nicht, weil es nicht anders ginge, sondern aufgrund massiver grassierender Dumm- und Verblendetheit. Aber besser, die Implosion erfolgt rasch, als dass dieser Kapitalismus noch Jahrzehnte weiter künstlich am Leben erhalten wird. Aufgrund der damit verbundenen Effekte (immer stärkere Verarmung der Massen und steigender Reichtum der Reichsten) wäre dies ohnehin nicht möglich, es würde nur zu Jahrzehnten voller Aufstände und Bürgerkriege (Staatsgewalt, Sicherheitsdienste und Söldner gegen das Volk) führen. Eine Implosion auf dem Papier mit anschließendem Wechsel zu einem tauglicheren "System" statt einer Explosion auf den Straßen wäre sicherlich wünschenswerter. Aber hier spießt es sich und wir kommen zur Anfangsfrage zurück: Was soll sich ändern, wenn sich die Massen weigern, die richtigen Schlüsse aus der aktuellen Kapitalismuskrise zu ziehen und Alternativen zu erarbeiten und aufzuzeigen?

Die Massenproteste im Westen müssen sich politisieren. Es müssen die Grundlagen für die (funktionierende, gerechtere) Organisation der Gesellschaften nach dem fulmninanten Ende des Kapitalismus - und mit ihm die willenlosen politischen Eliten, deren einzige Funktion in den sich nun abzeichnenden "Nachtwärterstaaten" die Unterdrückung der Bevölkerung ist - geschaffen werden. Hierzu muss man sich endlich ernsthaft mit politischen Theorien auseinandersetzen, sei es nun Basisdemokratie, Kommunismus, Anarchismus, Liberalismus, Individualismus, Sozialismus. Dabei muss klar sein, dass Zustände wie die gegenwärtigen - alle arbeiten für den Gewinn weniger - keinesfalls mehr eintreten dürfen. Auf irgendeinen gemeinsamen Nenner wird man sich verständigen müssen, um nach der Implosion des Kapitalismus nicht "versehentlich" wieder einen "neuen" Kapitalismus aufzubauen ...

Dass all das möglich ist, legen viele Zahlen nahe, ein paar Beispiele:
- in Österreich werden so viele Überstunden gemacht, dass dies dem Äquivalent von 150.000 (!) Vollzeit-Arbeitsplätzen entspricht - dadurch würde, so Sozialwissenschafter Bernd Marin, wieder Vollbeschäftigung erreicht werden. (Bern Marin, "Sechs Urlaubswochen?", Der Standard, 20./21. August 2011, S. 15)
- durch die Anhebung des Pensionsalters, die angeblich notwendig ist, um die Pensionen bei steigender Lebenserwartung noch finanzieren zu können, gehen (bei den Jungen) Jobs verloren. Wären Einkommen und Vermögen jedoch gleichmäßig(er) verteilt (Stichwort: Vermögenssteuer, Transaktionssteuer, Erbschaftssteuer und weitere Steuern auf großes Eigentum und Vermögen), müsste nicht nur das Pensionsantrittsalter nicht angehoben werden, auch ein 4-Stunden-Arbeitstag scheint in einer Welt, in der es nicht um Profitmaximierung geht, denkbar.

Donnerstag, 11. August 2011

London Riots 2011 - für Gerechtigkeit ist es jetzt zu spät

Zu den gewalttätigen Krawallen in London gibt es viele Berichte, viele verschiedene Ansichten, Analysen und Kommentare. Die meisten davon fallen in das "Schema F", sind aus der Sicht jener formuliert, die vom gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschafts-System profitieren oder zumindest glauben, dies zu tun. Sie sind Politiker, Unternehmer, Polizisten und Journalisten (jeweils natürlich auch -innen) auflagenstarker Tages- und Boulevardzeitungen. Sie haben gut reden - und können auf die Zustimmung jenes Großteils der Bevölkerung zählen, die sich als Angehörige der Mittelschicht verstehen: Sie haben sich ihre Brötchen und Flachbildfernseher mit harter, zumindest jedoch zeitraubender, Arbeit verdient. Sie haben entsprechend viel zu verlieren - und fürchten dies auch. Sie vertrauen auf einen Staat, in dem die Polizei "hart" erarbeitetes Eigentum schützt und (ebenso hart) verteidigt. Nur wenn sie sich darauf verlassen können, lohnt es sich überhaupt, materielle Güter anzuhäufen. Ihre Reaktion auf die Krawalle ist daher klar: Null Verständnis, null Toleranz. Wenn es den Leuten schlecht geht, dann sollen sie - so die Ratschläge je nach Intelligenz und Differenzierfähigkeit - "einfach" arbeiten oder "meinetwegen" friedlich demonstrieren. Denn wenn mich etwas stört, "darf" ich ja auch nicht einfach das Auto meines Nachbarn anzünden und mit der Rechtfertigung, ich hätte ein beschissenes Leben, auf Verständnis hoffen. Denn: Wenn das alle täten, wo kämen wir denn da hin?

alle sind Mittelschicht - nur nicht "die anderen"

So weit und so nachvollziehbar also die Argumente derjenigen, die glauben, in einer mehr oder weniger funktionierenden demokratischen Gesellschaft zu leben. Sie glauben daran, dass man mit harter und ehrlicher Arbeit im Grunde alles erreichen kann. Klar wissen sie, dass es Leute gibt, die einfach "nur" Bauarbeiter, Müllfrauen, Putzmänner usw. sind und dass es eine große Zahl von Menschen gibt - häufig Zuwanderer und deren Kinder - die in ziemlich armen Verhältnissen leben. Sie wissen es. Aber ihr Mitleid hält sich in Grenzen. Denn in ihrem Weltbild handelt es sich dabei um Leute, die aus irgendwelchen Gründen nicht fähig sind, ihren "sozialen Aufstieg" zu managen. Dass es sich bei diesen Menschen, die man als Unterschicht zu identifizieren glaubt, augenscheinlich vor allem um "Fremde" handelt, ganz gleich, ob schwarz, gelb, braun oder was auch immer (bloß eben nicht weiß), erklärt man sich damit, dass es "offenbar" gewisse kulturelle Barrieren gibt (um es mal gewählt zu formulieren), die die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. den sozialen Aufstieg verhindern. Man reimt sich dann allerhand Dinge zusammen: die Menschen seien halt kulturell anders geprägt, sind von Haus aus eher faul, kommen aus dem Süden, Schwarze seien sowieso kriminell und dealen "gerne" mit Drogen usw. usw. - und damit ist eigentlich schon sehr vieles gesagt, was die "Fronten", die zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen praktisch in der gesamten westlichen Welt (und nicht nur dort) verlaufen, erklärt.

Rassismus & "Multi-Kulti ist gescheitert" vs. Kapitalismus und soziale Realität

Es erklärt beispielsweise den zunehmenden, tief überzeugten Rassismus in nahezu allen europäischen Ländern. Wer jetzt meint, der Rassismus würde nicht zunehmen, da er schon immer vorhanden gewesen sei, der hat möglicherweise ebenfalls recht. Vielleicht ist das, was in den letzten rund zehn Jahren in vielen europäischen Ländern zu sehen ist, keine Zunahme des Rassismus an sich, sondern nur eine Zunahme und Radikalisierung des rassistischen Diskurses. Denn aus den in den obigen zwei Absätzen kurz angeschnittenen gesellschaftlichen und gedankenweltlichen Gegebenheiten leiten viele Menschen auch den "Wahrheitsbeweis" ab, dass "Multikulti" gescheitert sei (so gelesen etwa in diesem britischen Blog hier). Populistische Politiker wissen diesen Umstand sehr gut für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Reaktion der Politik: Feuer mit Feuer bekämpfen

Zum anderen erklärt es das große Unverständnis, aufgrund welchem der "Mainstream" nach harten Reaktionen des Staats ruft, ja sogar nach der Streichung der letzten verbliebenen Sozialleistungen oder den Rausschmiss aus Sozialwohnungen. In der Logik der Menschen, die so etwas fordern, haben die Randalierer aus den Armenvierteln Londons das Vertrauen der restlichen Bevölkerung missbraucht, die ihnen mittels Steuern ja Sozialleistungen, Jugendzentren, Hilfsprogramme usw. zukommen lassen. Nicht wenige meinen nun, es sei rausgeschmissenes Geld, Sozialleistungen an "Kriminelle" auszubezahlen. Eine nicht wirklich schlüssige Schlussfolgerung, für die die entschlossenen Statements David Camerons, es würde sich keinesfalls um politische Proteste sondern nur um "kriminellen Abschaum" handeln, maßgeblich mitverantwortlich ist. Denn die oben angerissene Gedankenwelt eines "Mainstream-Britens" wird durch derartige Aussagen A) bestätigt und B) um weitere sehr gefährliche Elemente bereichert. Denn in der weitgehenden Ratlosigkeit, warum denn diese Krawalle stattfinden würden, knüpft Cameron an bereits bestehende Ressentiments an und verbindet bzw. bestätigt diese mit seiner als Wahrheit dargestellten Behauptung, es handle sich um "kranke" Kriminelle, denen man nur mit Gewalt die Grenzen ihrer "Maßlosigkeit" (!) zeigen könne.

Es bedarf wohl kaum weiterer Ausführungen, in welche Richtung sich alles entwickeln würde, würde man den Armenvierteln der Stadt auch noch die letzten staatlichen Zuwendungen entziehen. Die Frage, wozu die Unterschicht überhaupt Steuern bezahlen soll (ja, Mehrwehrtssteuer, Mineralölsteuer und viele andere lustige Dinge bezahlen alle!), wird ja schon jetzt gestellt - von einer Bevölkerungsgruppe, die von der Hand in den Mund leben muss und als einzige staatliche Leistung jene erfahren kann, dass die Polizei "routinemäßig" dunkelhäutige Teenager in aller Öffentlichkeit filzt und beschimpft. Tag für Tag! Oder wie es der Quartier-Bewohner und Schriftsteller Darcus Howe nennt: sein Enkel zählt schon gar nicht mehr, wie oft er an einem einzigen (!) Tag von der Polizei gef**** wird:



So weit also der Mainstream-Diskurs über die Krawalle in einer Art Zusammenfassung, ohne auf (x-beliebige) Beispiele aus der Boulevard-Presse, Politiker-Zitate etc. einzugehen - das gibt es - wie gesagt - eh im Mainstream, überall, zu hören, lesen und zu sehen. Bloß dieses Video, bei dem man mehr hört als sieht und das den unmittelbaren Auslöser der Krawalle darstellen soll, wird erstaunlicherweise seit dem zweiten Tag der Proteste gar nicht mehr erwähnt. Die Krawalle hätten plötzlich im Anschluss an die friedliche Demo völlig unvermittelt begonnen. Glaubt man jedoch den Behauptungen von Augenzeugen, die zumindest im Guardian Live-Blog anfangs noch Gehör fanden, eskalierte die Gewalt erst nachdem ein 16-jähriges Mädchen nach einem sicherlich nicht schönen, aber letztlich verbalen Wortgefecht, von einer Horde Polizisten (im Video zu sehen) niedergeprügelt wurde. Am Ende des Videos hört und sieht man noch, wie immer mehr Leute total aufgebracht Richtung Polizei laufen. Dann endet des Video. Die nächsten Videos zeigen dann schon, wie Polizeifahrzeuge zerlegt werden. Kennt man die Vorgeschichte, ist das alles andere als überraschend oder gar unpolitisch.

der unmittelbare Auslöser der Krawalle: Polizei verprügelt im Anschluss an friedliche Demo gegen den Polizeimord an Mark Duggan ein 16-jähriges Mädchen:

Und jetzt zum eigentlichen: Natürlich sind diese Krawalle kein zufälliger "Gang Bang" (wenn man so will) eines riesigen Haufens Krimineller die in ihren Kriminellen-Wohnungen in Kriminellen-Vierteln leben. Natürlich ist es ein "Skandal" (ein leider bereits viel zu abgenutztes und daher längst zu schwaches Wort, um so etwas zu beschreiben), wenn Zitate eines demokratisch gewählten europäischen Premierminister kaum mehr von jenen eines beliebigen arabischen Despoten oder von Erwin Pröll unterschieden werden können, wenn man die gesamte britische Unterschicht, die den Wohlstand, von dem verhätschelte Kinder wie David Cameron zehren, überhaupt erst möglichen, pauschal als "Abschaum" und "kriminelles Pack" bezeichnet. Ein Skandal deshalb, weil diese eskalierende "Kriminalität", wie der Mainstream es nennt, ja aus dem Zentrum der britischen Gesellschaft entspringt. Und wer sonst, wenn nicht die Gesellschaft und ihre demokratisch gewählten Repräsentanten, ist für den Zustand dieser Gesellschaft verantwortlich?

Dass eine derartig dreiste Lüge und Diffamierung nicht als Skandal gewertet wird, ist wohl einzig dem Umstand zu verdanken, dass es - wie oben ausgeführt - für eine breite Mehrheit der Gesellschaft konsensfähig ist, dass es "offensichtlich" um importierte Kriminalität, verkörpert durch die Kinder der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten, handeln "muss". Das erklärt dann wiederum, wie Thesen wie jene Thilo Sarrazzins, bei Moslems gebe es eine Art genetisch vererbte Dummheit, überhaupt auf so große Akzeptanz stoßen. Die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte hat den (jeweils) Einheimischen vielfach die "Drecksjobs" abgenommen. Aber statt als "neue Unterschicht" werden diese Menschen nun als "zurückgebliebener Haufen" wahrgenommen - während man sich selbst als vorbildliches Beispiel des sozialen Aufstiegs versteht. Ein sozialer Aufstieg, der durch Zuwanderung ermöglich wurde und der statt mit Dank mit Hass und Rassismus beantwortet wird. Und jeder, der weiß, wie es ist, wenn man statt Dank für seine harte und kaum entlohnte Arbeit auch noch Hohn, Spott oder gar Hass zu spüren bekommt, der kann sich ausmalen, wie man sich in so einer Lage fühlen muss. Wenn sich das ganze auch noch Jahrzehnte hinzieht, ohne Aussicht auf Aufstieg oder Besserung, dann kann man sich nur wundern, dass derartige Aufstände nicht öfter stattfinden und heftiger ausfallen.

It´s Neoliberalism - stupid!

Dass die Aufstände, die scheinbar wahllos und ohne Rücksicht und noch dazu in der eigenen Nachbarschaft alles zerstören, plündern und in Brand stecken, Ausdruck der massiven sozialen Ungleichheit in Großbritannien sind, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Das ohnehin schwache Sozialsystem der Briten, das eher jenem der USA als jenem Festlandeuropas ähnelt, wird seit über einem Jahr weiter demontiert. Und das ohne jegliches Maß und Rücksicht. Die herablassende und zutiefst entwürdigende Wortwahl von David Cameron und Nick Clegg ist bei dieser Politik, die Studiengebühren verdreifacht und Sozialleistungen radikal kürzt oder streicht, gar nicht mehr verwunderlich. Sie steht für die tiefe Entfremdung der Lebenswelt der britischen Elite von jener der armen Massen. Und es handelt sich dabei keineswegs um unerforschte oder unbekannte Entwicklungen. Im ganzen Medien-Blabla haben es manche Medien tatsächlich vollbracht, ausgewiesene Experten nach ihrer Einschätzung zu befragen. Für die in Großbritannien lebende Soziologin Saskia Sassen spricht die Politik "die Sprache der Tyrannei" (Der Standard), und Soziologe Richard Sennett erklärt dem Spiegel, "warum die britische Gesellschaft viele junge Leute isoliert und kriminalisiert." Der Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Ausgrenzung und den Krawallen von 6. bis 9. August in London wird auf dieser präzisen London-Karte des Datenjournalisten Matt Stiles: betroffen waren fast ausnahmslos die Armenviertel der Stadt:


Also schloss man in London erst unlängst zahlreiche Jugendzentren, die für viele mittellose Kids und Teenager der Wohnblocks in den ärmeren Stadtteilen der einzige soziale Treffpunkt abseits der Straßen war. In einem Video-Beitrag des Guardian meinten Betroffene schon damals, dass dies fürchterliche Folgen haben könnte. "There will be riots" meinte einer etwa:



Aber wer neoliberal denkt und für den Vorteil Weniger zulasten Vieler handelt, kümmert sich keinen Deut um Beschwerden oder Proteste betroffener. Das hat sich bei den sowohl friedlichen als auch gewalttätigen Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 gezeigt. Wenn dann auch noch die black community gegen Polizeigewalt und -willkür protestiert, findet das in der Medienberichterstattung erst gar keinen Widerhall. Als ob sie in einer anderen Welt leben würden. So geschehen im März 2011 nach dem Tod von Smiley Culture, einem bekannten (und schwarzen) Reggae-Musiker und DJ. Er starb an den Folgen von Verletzungen bei einer Polizei-Razzia in seiner Wohnung südlich von London. Es gab eine große, aber friedliche Demonstration in London, von der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen. Und es war nicht das erste Mal, das ein Schwarzer in London von Polizisten getötet wurde. Rechtliche Folgen hat so etwas jedoch nie. Seit 1998 kamen 333 Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Kein einziges Mal wurde ein Polizist dafür verurteilt, obwohl es an umstrittenen Todesfällen nicht mangelt (vgl. Kopfschuss-Hinrichtung eines Mannes in der Londoner U-Bahn 2005). Und dann ist es wieder mal so weit: am 4. August erschießt die Polizei bei einer Fahrzeugkontrolle einen vierfachen, 29-jährigen, schwarzen Familienvater. Die Sparmaßnahmen, etwa durch die Schließung von Jugendzentren und die Beendigung von Sozialprogrammen, haben zu diesem Zeitpunkt längst "gegriffen". Der Dampfkochtopf explodiert. Für Gerechtigkeit oder die Erwartung moralisch richtiger Handlungen ist es hier zu spät.

Die Frage "Is rioting the correct way to express your discontent?" liegt aus all diesen und noch vielen Gründen mehr für viele Jugendliche in den betroffenen Stadtteilen Londons auf der Hand: "Yes. You wouldn't be talking to me now if we didn't riot, would you?"

siehe auch:
- zurpolitik.com:
Eine Busfahrt durch Tottenham
- zurpolitik.com: London wird weiter brennen

Freitag, 5. August 2011

Der Wiener Weg: Die Stadt gehört sicher nicht dir! - oder: Squat til you drop!

[Update: In der Nacht von 4. auf 5.8. wurde kurrzeitig die Triester Straße 114 ("MA 2412") wieder besetzt. Sollten dort laut Wohnbaustadtrad Ludwig nicht seit Montag die Umbauarbeiten stattfinden? --> Meldung auf Indymedia, 5.8.]
letztes Update: 5.8.2011
Nach der (überraschenden, da bereits Sonntagvormittag, 31. Juli, geschehenen) Räumung der Triester Straße 114 (diente einst als Kulisse der ORF-Sitcom "MA 2412") ließen sich die BesetzerInnen nicht lange lumpen und besetzten kurzerhand - am Abend des selben Tages - ein leer stehendes 4-Sterne-Hotel in der Grünbergstraße 11. Die Besetzung war "still", wurde also nicht nach außen bekannt gegeben. Erst am nächsten Morgen wurde via Twitter und Indymedia dazu eingeladen, auf eine Pizza vorbei zu schauen. Doch kaum war diese Meldung draußen, wurde das Hotel von der WEGA in Begleitung des LVT gestürmt, mehrere Personen wurden sogar vorübergehend festgenommen (alle Angaben laut der einzigen Mitteilung der BesetzerInnen auf Indymedia). Daraufhin zog eine Spontandemonstration via Gudrunstraße u.a. zum zuständigen Polizeirevier/Gefängnis, bis einige Stunden später alle frei gelassen wurden.

Über Details zur Räumung, den Gründen der Verhaftung und ob das Hotel tatsächlich leer stand (es hieß, die Betten seien gemacht gewesen und jemand meinte, das Hotel sei nur zur Renovierung geschlossen - Angaben, die ich persönlich leider nicht überprüfen konnte und kann, da ich derzeit nicht in Wien bin) wurde nach außen nichts bekannt gegeben, wäre jedoch noch interessant. Denn wenn es zu Verhaftungen kam und augenscheinlich nicht einmal einen Räumungsbescheid gab [Foto des Räumungsbescheids bei Martin Juen] (auch bei der Triester Straße-Räumung hieß es bereit, es hätte laut Einsatzleiter keinen Räumungsbescheid gegeben; kann dies mittlerweile bestätigt werden?), dann liegt es mit dem Rechts- und Polizeistaat gleich in mehrerlei Hinsicht im Argen.

Wien ist und bleibt anders. Keine Frage. keine Diskussion.

Es ist augenscheinlich, dass die Stadt - und mit ihr und sowieso die Polizei und der LVT - nervös ist. Der Vorteil einer Hausbesetzung in Österreich ist, dass die Politik eine solche nur schlecht "aussitzen" kann (und eine solche sowohl zivil- als auch verwaltungs- und strafrechtlich schwer zu fassen ist). Und aussitzen ist die stärkste Waffe, die die österreichische Politik kennt - zumal man Problemen am liebsten aus dem Weg geht und sich dadurch Konfrontationen erspart. Bei Hausbesetzungen geht das nicht. Daher kommt nun Aufgregung in den friedlich vor sich hin dampfenden Misthaufen namens Wiener Stadtverwaltung und dem mit ihr eng verflechteten Polizeiapparat. Wenn aussitzen nicht funktioniert - und für diese Erkenntnis braucht man selbst in Wien nicht lange, wozu gibts denn die Experten vom LVT? - greift man bekanntlich zur nächstbesten Methode, wenn man auf dem längeren Ast sitzt: ausgrenzen, aussperren, austreiben. Oder anders gesagt: Gewalt, Repression.

Daher ist es kein Wunder, dass Stadt & Polizei nun bei jeder neuerlichen Besetzung, kaum wird diese öffentlich bekannt (oder sogar schon davor), umgehend mit der WEGA antanzt. Und wer beim ersten Mal (Lobmeyr-Hof) nicht hören will (wo man sich noch Mühe gegeben hat, den Schein zu wahren), braucht bei den nächsten Malen wirklich nicht zu erwarten, dass sich der Moloch namens Wien auch nur einen Deut um Gesetze, Verfassungsrechte oder sonstigen Gutmenschen-Schnickschnack schert: Raus mit dem Pack, aber zackig! Am besten gleich einsperren, rechtliches Zeugs hin- oder her, und für ein paar Stunden U-Haft braucht es ja nicht mal irgendeinen haltbaren Vorwurf. Praktisch!

Und somit ist es allerhöchste Zeit, sich zu fragen, wie das ganze weitergehen soll. Der "Wiener Weg" ist klar vorgegeben - war er auch immer schon - und es war klar, dass sich die Stadt nicht von ein paar Grünen in "ihrer" Regierung oder ein paar "Antikapitalisten" davon abbringen wird: Wohnbaustadtrat Michael "bekannt aus Inseraten in ihrer Gratiszeitung" Ludwig hat erst vor wenigen Tagen nochmal betont: "Hausbesetzungen werden nicht toleriert." Punkt. Fertig. Ende der (nie begonnenen) Diskussion.

Wie weiter?

So weit, so schlecht, so klar, so absehbar. Mit jedem Mal wird die Repressionsstufe weiter erhöht. Das Ziel ist eindeutig: Es soll auch dem letzten Möchtegern-Hausbesetzer (innen und am besten überhaupt außen) so rasch wie möglich klar werden: Wien bleibt Wien, mia bleim mia und ihr kinnts eich schleichen! Wer Freiraum will, kann ja auf die Donauinsel. Wer "irgendwas autonomes" will, soll ins EKH oder Amerlinghaus gehen (und Krankenhaus gibts ja auch schon eines, wozu noch eins?) und wem das alles nicht passt, soll doch auswandern.

Auch wenn einem das alles bewusst ist, droht es einen doch irgendwann zu zermalmen. Was kann man dagegen machen? Eins ist klar: jetzt aufgeben bringt gar nix. Nächstes Jahr wird es sicher nicht leichter. Es sei denn, die Wirtschaftskrise schlägt voll durch und auch zweiseitige "Heute"-Inserate trösten die WienerInnen nicht mehr über immer höher werdende Mieten hinweg - Bobo-Aufstand in Neubau und in der Josefstadt! Dass so etwas möglich ist, dafür gibt es täglich mehr Beispiele: die großen Proteste (kürzlich 150.000 Demonstrierende auf den Straßen in den Städten des Landes) gegen explodierende Mieten in Israel, die man vor wenigen Wochen noch nicht für möglich gehalten hätte, sind nur das jüngste. Dass in Spanien immer noch täglich Plena in den Stadtbezirken (barrios) abgehalten werden, steht zwar in keiner Zeitung, passiert aber trotzdem. Und es wird noch bald genug wieder so weit sein, dass auch bei uns wieder was darüber in der Zeitung steht. Und dass es in Italien schon seit Jahren gärt, kümmert zwar keinen Café Latte-Trinker in den Lieblings-Cafés der Wiener JournalistInnen, aber auch das ist trotzdem (dürfens denn das?) so! Echt!

Aufstand im Bobo-Land

Aber wahrscheinlich ist ein solcher Bobo-Aufstand trotzdem nicht. Von nichts kommt nichts. Aber wie sich schon vor zwei Jahren bei der erstmaligen Besetzung der Triester Straße 114 gezeigt hat, haben Hausbesetzungen (und Besetzungen als radikales Mittel der Verneinung herrschender (Besitz-)Verhältnisse) enormes Potenzial, Proteste zu katalysieren. Nur zwei Wochen nach Räumung der Triester Straße im Oktober 2009 wurde die Akademie der bildenden Künste und schließlich das Audimax der Universität besetzt: für zwei Monate! Und jetzt sage niemand, das habe eh alles nix gebracht ... wenn dem so wäre, warum ließt du dann eigentlich diesen Blog??? Und warum schreibe ich ihn? ;)

à propos Medien, da sind wir eh schon beim richtigen Thema: die Besetzung des Lobmeyr-Hofes und jene der Triester Straße (also alle diesjährigen Besetzungen, die mehr als zwei Tage Bestand hatten!) haben es zu - je nach Perspektive - erstaunlich großer Medienberichterstattung gebracht (nicht nur derstandard.at - ganz im Gegenteil, die MA2412-Räumung war am ersten Tag de facto eine Exklusiv-Story des ORF). Und auch wenn die Kronen Zeitung als offizielles Organ der Stadt Wien verlautbart, dass es nur der Sicherheit der Nachbarn gedient habe, den Lobmeyr-Hof zu räumen, gibt es dennoch - sogar bei der Krone - jedes mal ein paar Tausend LeserInnen, ich wage sogar zu behaupten, ein paar Hunderttausend - die ganz genau wissen, was für Bullshit ihnen da aufgetischt wird, und dass die Suppe anders gekocht wurde, als sie ihnen serviert wird.

Und überhaupt: Über die Qualität der Berichte lässt sich bei allen Medien vortrefflich streiten (bzw. auch nicht, da wir uns vermutlich rasch einig sein werden), denn dass die meisten JournalistInnen keine Ahnung haben, was das ganze überhaupt soll und ob das nicht irgendwie lächerlich ist, sowas in Wien aufzuführen (wieder mal: dürfens denn das??), das geben sie in ihrer Überforderheit mit dem Thema sogar schon selber zu (vgl. Roman Rafreider in der ZIB 24). Aber: es wird berichtet. Und mit jedem Bericht wird die Sensibilität für neue Besetzungen erhöht. Mit jedem Bericht steigt der Kreis jener Menschen, die das ganze nicht nur als Lückenfüller im Sommerloch sondern als eine Entwicklung oder Bewegung wahrnehmen. Und mit jedem und jeder, der dies so wahrnimmt, steigt die Zahl jener, die beim nächsten mal einen Teppich vorbeibringen, oder eine Couch, oder eine Matratze - oder sich selbst. Das weiß auch die Stadt (daher die immer schnelleren Räumungen) und das sollten daher auch die BesetzerInnen wissen.

Squat til you drop

Mit jedem Bericht steigen auch die Kenntnisse der JournalistInnen, die durch die Ereignisse (und das Sommerloch) gezwungen werden, sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Und ja, ich glaube, manchen macht das sogar Spaß ;) Kapitalismuskritik ist ja derzeit ziemlich in Mode, HausbesetzerInnen hätten das Zeug, in gewisser Weise als Trendsetter wahrgenommen zu werden (auch wenn ich vermute, dass es nur wenig gibt, was sie mehr ankotzen würde; aber man muss es ja auch nicht so PR- und werbegestört formulieren, wie ich es gerade tue. Aber man kann es. Und es zeigt, dass die Mechanismen, mit denen uns tagtäglich das neue beste ultrageile Waschmittel verkauft wird im Grunde genau so gut durch subversive Botschaften ersetzt werden könnten. In diesem Sinne muss Squatting also Trendsport werden ;)).

Man muss eben die richtige Mischung aus "streichelweich" und "radikal" finden, dann wird man womöglich sogar noch Liebling der Woche in der Tierecke bei Maggie Entenfellner - und es gibt nichts in diesem Land, wovor die Herrschenden mehr Angst hätten ...

Wenn Hausbesetzen nicht nur Mittel zum Zweck (zB. Wohnen) ist, sondern ein politisches Statement, eine Kampfansage an den Kapitalismus - oder auch einfach "nur" das Vorzeigen einer Alternative zu festgefahrenen Lebensentwürfen, dann brauchen Hausbesetzungen auch öffentliche Aufmerksamkeit. Und wenn mehr als nur "die üblichen Verdächtigen" erreicht werden soll, braucht es mehr, als Indymedia und Blogs wie diesen. In diesem Sinne halte ich es durchaus für berechtigt, sich Gedanken zu machen, ob und wie man in den Medien vor- bzw. ankommt, selbst wenn es noch so verabscheuungswürdige Produkte wie Krone, Heute oder Österreich sind. Und es ist ja nicht so, dass sich niemand darüber Gedanken machen würde. Lobmeyr-Hof und das MA2412-Gebäude waren ja regelrechte "PR-Erfolge", wenn man so will.

Umso wichtiger ist es daher, jetzt nicht nachzulassen, die eigenen Botschaften weiter auszuformulieren (wenn in der Zeitung steht, man würde "Sanierungen bekämpfen", ist irgendwas schief gelaufen ;)) und sich von Polizeigewalt und systematischen Gesetzesverstößen der Repressionsbehörden nicht einschüchtern zu lassen, sondern ganz im Gegenteil, diese zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Das sorgt für Gesprächsstoff und bringt die Verantwortlichen unter Druck. Denn ist eine Information erst einmal (im Internet) veröffentlicht, findet sie immer ihren Weg zu jenen, die sie am dringendsten benötigen - und auch zu jenen, denen sie am unangenehmsten ist.

siehe auch:
- Indymedia, 1. August 2011: 4* Hotel besetzt
- Indymedia, 1. August 2011: [wien] Besetztes Hotel wurde heute geräumt
- Martin Juen, 1. August 2011: Besetztes Haus Kaiserpark Schönbrunn – eine Zusammenfassung | Wien 01.08.2011
- ORF, ZIB 24, 3. August 2011: Hausbesetzung 2.0 (youtube)
 
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