Montag, 6. Dezember 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 6: Hausbesetzungsbewegung seit 2005

Sorry für die große Verspätung, liebe Leute. Ich will hier auch nicht lange erklären oder in Ausreden versumpfen, warum ich für den letzten Teil der Serie ganze zwei Monate brauche - hab ich ja auch nicht. Ich wollte diesen Teil nach meiner Rückehr aus Zürich schreiben, und zwar in aller Ausführlichkeit. Dafür wollte ich mir auch entsprechend Zeit nehmen, was aus verschiedenen Gründen aber nicht möglich war und aus heutiger Sicht noch lange nicht möglich sein wird.

Ich hab die Fortsetzung zwar geschrieben, jedoch nicht so ausführlich wie für den Blog geplant. Stattdessen hab ich die Gelegenheit genutzt, die Story ab 2005 (also dieser 6. Teil hier) für die während der Wiener Audimax-Besetzung gegründete Studierenden-Zeitung über.morgen (erscheint im Regelfall mit einer Auflage von 1.000 bis 1.500 Stück // die ersten 12 Ausgaben 2010 sind in einer Gesamtauflage von 28.500 Stück erschienen, da z.B. anlässlich "Bologna Burns" etwa 3.000 Stück oder mehr gedruckt wurden; eine höhere Auflage gab es auch vor den Vollversammlungen der österreichischen Universitäten im Oktober) zu schreiben. Ich musste mich dabei natürlich aus Platzgründen aufs Wesentliche beschränken (was ja vielleicht mal gar nicht so schlecht ist :)), wobei das Thema ohnehin relativ viel Platz in der Zeitung erhalten hat und ich die Story auf zwei Ausgaben aufgeteilt habe. Amüsantes Detail am Rande: Die Oktober-Ausgabe der Zeitung hatte eine Hausbesetzung in Wien (Burggasse 2, war im Sommer neben einigen anderen Häuser im Rahmen einer Art "Squat-Hopping-Wochen" ein oder zweimal besetzt), doch im Blattinneren wurde nur von Hausbesetzungen in Zürich berichtet ;)

Daher stelle ich meine beiden in der über.morgen erschienenen Teile (wobei der erste Teil eine Art Zusammenfassung der hier erschienenen Teile 1-5 ist) mal einfach hier online. Die derzeit monatlich erscheinende Zeitung wird auf der über.morgen-Webseite ohnehin vollständig als PDF zum Gratis-Download angeboten. Im Gegenzug bittet die (natürlich ehrenamtlich hergestellte) Zeitung, die aus Prinzip auf Werbung verzichtet und kostenlos verbreitet wird, um Spenden (Druckkosten).

über.morgen, Jahr 2, Nr. 11, 1.10.2010
vollständiger Download der Ausgabe (PDF)

(Titelseite, zum vergrößern klicken)


(S. 4, Foto: besetztes Squat-Wohnhaus "Friesi", zum vergrößern klicken)

(S. 5, Foto: "Wehnti", kurz vor dem Verlassen, August 2010; zum vergrößern klicken)


über.morgen, Jahr 2, Nr. 12, 29.10.2010
vollständiger Download der Ausgabe (PDF)
(=> extra-lange Ausgabe "1 Jahr unibrennt"!)

(S. 9, Foto: Konzert in der besetzten Kalkbreite; zum vergrößern klicken)

In diesem Sinne: Viel Lesevergnügen (hoffentlich) und bis zum nächsten Mal. Spätestens nächsten Sommer muss mit einem weiteren Bericht aus Zürichs besetzten Häusern gerechnet werden ;)

PS: Achja, und wie versprochen gibts eine Squat-Statistik auf Basis von Thomas Stahels unvollständigem, aber umfangreichem Anhang der Zürcher Hausbesetzungen seit 1968:

Donnerstag, 4. November 2010

"Sub-Standard".at - maßloser Boulevard zur Profit-Macherei?

Geht's eigentlich noch? Beim Lesen des Editorials der Juli/August-Ausgabe des Branchenmagazins "extradienst" (Herausgeber und Chefredakteur in Personalunion: Christian W. Mucha) fühlt man sich leicht um 80, 90 Jahre in der Zeit zurückversetzt. In eine Zeit, wo sich verschiedene Blätter gegenseitig bis vor Gericht bekriegten, vor den übelsten Anschuldigungen nicht zurückschreckten, "unpassende" Tatsachen einfach ausklammerten. An derartiges erinnert Muchas "Editorial" über den "Sub-Standard", das an Polemik kaum überbietbar zu sein scheint.

Mucha wirft Oscar Bronner persönlich vor, dass "jeder Schuft jeden Todesfall hierzulande mit erbarmungsloser Gehässigkeit auf derstandard.at ungestraft kommentieren kann". So weit so gut. Selbiges könnte man zwar auch von jedem anderen österreichischen Medium mit Online-Auftritt und Forums- oder Kommentarfunktion behaupten (ich denke, die typischen krone.at-User-Kommentare sind bekannt und berüchtigt genug, als diese hier extra erwähnen zu müssen), aber für Mucha ist klar: Dahinter steckt bloß "miese Profit-Macherei von Bronner & Co".

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass sich Mucha ausgerechnet auf den Standard, ja Oscar Bronner persönlich so einschießt. Möglicherweise gab es auf derstandard.at anlässlich des Todesfalles von Kunstsammler Rudolf Leopold einige unschöne Kommentare, ebenso beim Todesfall von Hans Dichand. Aber ich wage zu bezweifeln, dass derstandard.at darauf ein Monopol hatte. Und während Mucha bei derstandard.at-Kommentaren wie "Der Chor der Arschkriecher: Danke, dass du mit Hehlerware so viel Erfolg hattest ... und dass du das getan hast!" die Galle hochgeht, scheint er von krone.at-Kommentaren bei Artikeln über, zum Beispiel, Abschiebungen von Kindern entweder nicht zu wissen oder nicht beeindruckt zu sein - auch wenn das Ausmaß menschenverachtenden Hasses dort ungleich größer und stärker zum Ausdruck kommt, ja sogar mit dutzenden "gefällt mir" von anderen, namentlich (!) registrierten LeserInnen (freilich hinter Pseudonymen versteckt) "belohnt" wird - und ebenso wenig von den AdministratorInnen gelöscht wird. Doch auf derstandard.at genügt es schon, dass dem umstrittenen Kunstsammler Leopold, dessen Kunstwerke in einigen Fällen nachweislich aus arisierten Beständen erworben wurden, "Arschkriecherei" und Handel mit "Hehlerware" vorgeworfen wird, damit Mucha in diesem Online-Forum jegliche "Pietät" vermisst und "jeden Respekt" vor dem Standard verliert.

krone.at erwähnt Mucha wohlgemerkt im gesamten, zweiseitigen Editorial nur ein Mal: nämlich als "Lercherl" im Vergleich zu dem, was derstandard.at an "Boulevard" betreibt. Es scheint ihm viel mehr um eine (persönliche?) "Abrechnung" mit Oscar Bronner und seinem Lebenswerk zu gehen, als um die in allen Online-Medien vorzufindende Problematik von Respektlosigkeit und Menschenverachtung in UserInnen-Kommentaren.

Die Annahme, dass sich Muchas Motivation für dieses Editorial nur vorgeblich aus der Wahrung der Würde verstorbener Persönlichkeiten speist, in Wahrheit aber eher eine aus persönlichen Gründen (welcher Art auch immer) motivierte Abrechnung mit Bronner darstellt, wird für mich von untergriffigen Formulierungen wie den folgenden genährt [Fett-Hervorhebungen durch mich vorgenommen, sonst wie im Original]:

"Dass jeder Schuft jeden Todesfall hierzulande mit erbarmungsloser Gehässigkeit auf derstandard.at ungestraft kommentieren kann, ist keine Errungenschaft, sondern miese Profit-Macherei von Bronner & Co."
"Oscar Bronner und seine lachsfarbene Botschaft sind stets als arrogante Gralshüter herumstolziert. Das hat der Egomane ("Guten Tag, mein Name ist ...") sein Lebtag lang getan."
Dass Bronner stolz darauf ist, dass er als "Trend"-Herausgeber journalistische Inhalte nicht (wie vielfach üblich) als Draufgabe für bezahlte Werbeanzeigen verkauft hat, ist für Mucha nicht lobenswert, sondern "anmaßend" - schließlich lauft das Geschäft schon "seit Urzeiten" so. Das Editorial geh wie folgt weiter:

"Jahrzehntelang sich selbst hoch dekorierend, stolziert Bronner heute mit geschwellter Brust durch die Gegend und sieht sich als Erfinder des anständigen Journalismus, als Hüter schreiberischer Tugend, der wirtschaftlichen Unabhängigkeit."
Neidisch?

"Aus solchem Mund wird Kritik naturgemäß ernster genommen, als wenn sie von Krethi oder Plethi kommt. Doch der Herr Bronner sollte künftig besser seinen Mund halten. Und sich verkriechen. Und sich schämen. Am besten gemeinsam mit seinem Sohn, Mag. Alexander Mitteräcker, der für das Online-Geschäft federführend verantwortlich ist. Denn derstandard.at betreibt Boulevard mit einer Maßlosigkeit, gegen die das, was man der Krone vorwirft, ein Lercherl ist."
Doch jetzt kommt - es war fast zu befürchten - noch die "Kultur" ins Spiel, und so Dinge wie "Errungenschaften" von Kultur und Gesellschaft. "Üble Nachrede über den Tod hinaus gilt bei jeder hohen Kultur als absolut unschicklich", resümiert Mucha nach diesem Absatz. Was will er uns damit sagen, nachdem er Oscar Bronner und seinen Sohn als persönlich verantwortlich für die von Usern geposteten Kommentare gemacht hat? Er erklärt es uns in größter Ausführlichkeit:

"Im Standard freilich gelten andere Gesetze. Dort werden die Toten gedemütigt, beschimpft, verhöhnt, beleidigt. Dort wird verfälscht, gelogen, Unwahres verbreitet. Dort wird posthum beschädigt, beleidigt. Dort wird Geschichte verändert, die Geschichten werden verändert, die Wahrheit wird nach Belieben verdreht. All dies garniert mit obszöner, respektloser und oftmals extrem degoutanter Sprache."
Habe ich das jetzt richtig verstanden? Zuerst zitiert Mucha ein relativ harmloses (im Vergleich zu den von Mucha getätigten Anschuldigungen) Beispiel eines User-Kommentars auf derstandard.at, dann erzählt er uns etwas von "minimalste[n] Errungenschaften von jeder Kultur oder Gesellschaft seit Tausenden Jahren", macht Bronner und seinen Sohn persönlich für die Kommentare verantwortlich und leitet daraus ab, dass "im Standard [...] verfälscht, gelogen, Unwahres verbreitet" wird? Kann denn der Herr Mucha User-Kommentare nicht von redaktionellen Artikeln unterscheiden, oder wie kommt er zu diesen Anschuldigungen?

Mucha setzt sein Editorial mit der Ausführung fort, dass derstandard.at "seit Jahren die besten Werte, was Online-Besucher und Reichweiten betrifft" hat, damit "gutes Geld" verdient und sich Oscar Bronner dadurch den Rückkauf der Unternehmensanteile finanziere. Daraus schließt Mucha:

"Der Standard, so behaupte ich, verdient mit seinen Online-Pages deshalb so viel Geld, weil hier auf die mieseste Art und Weise Boulevard gemacht wird. Viel ärger als Bild oder Krone profitiert man von Voyeurismus. Boulevard aus Geschäftsinteresse. Boulevard aus Profitgier. Bronner öffnet den anonymen Schweinen, den Mieslingen, den Ungustln, den Schimpfern, den Hetzern und Neidern Tür und Tor, um damit eine möglichst große Community zum Standard zu locken."

Interessant, wie jemand trotz Vergleich mit der Krone (das Bild-Online-Forum kenne ich nicht) zu diesem doch sehr gewagten Schluss kommt. Wenn Muchas Erklärungsansatz stimmt, müsste meiner Ansicht nach krone.at die größte "Community" und LeserInnenschaft haben. Aber das beste kommt noch: offenbar ist Mucha der Meinung, sich noch immer nicht klar genug ausgedrückt zu haben und dass seine "Message" noch nicht ganz rübergekommen sein könnte:
"Und damit wir das ja nicht vergessen, sei es wiederholt: All dies passiert einzig, um die Gewinne zu steigern."
Ich lese also "Profitgier", "Profitgier", "Gewinne steigern", "Geschäftsinteresse", "Maßlosigkeit".... fehlt nur noch, dass Mucha Bronner als "Parasit" bezeichnet, und die "Message" dürfte endgültig herübergekommen sein.

Aber Mucha hat auch noch genügend andere Bezeichnungen für den Standard und seinen Herausgeber bereit:

"Die Medienplattform des Standard ist längst zum Urinal der Branche denaturiert."

"denaturiert"? Meint der Herr vielleicht "entartet"?

"'Etat' ist jener Platz, wo die Degoutanten ungeniert hinpinkeln können und wo die sich in einer Art und Weise austoben können, die unvorstellbar abstoßend ist."

Also so richtig entartet?

"All dies ist nur möglich, weil die Verantwortlichen und ihre angepassten Erfüllungsgehilfen dies zulassen. Dabei wäre es so einfach, einen Riegel vorzuschieben. Doch die Profit-Haie Bronner senior und junior denken nicht daran, das Forum zu sperren [...]"
Mucha ist besonders über die herablassenden UserInnen-Kommentare nach dem Tod Hans Dichands erzürnt. Zwar wurden laut derstandard.at-Chefin Gerlinde Hinterleitner ein ganzes Drittel der Postings entfernt, doch das glaubt Mucha nicht.

"Und dann stoßen wir auf etwas Erstaunliches: Betrachtet man nämlich die Postings, die beim Tod von Gerhard Bronner, dem Vater von Oscar Bronner, gesetzt wurden, dann entdeckt man, dass es bis auf ganz wenige kritische Postings beim alten Kabarettisten eigentlich nur Positives gibt, was dort veröffentlicht wurde."

Ja, das ist wirklich erstaunlich! Dass ein (zudem der jüngeren Generation kaum noch bekannter) Kabarettist im Gegensatz zum über fünf Jahrzehnte lang höchst umstrittenen Herausgeber der seit mehreren Jahrzehnten auflagenstärksten und einflussreichsten, mit der Politik verbandelten Kronen Zeitung, weniger "kritische Postings" hervorgerufen hat, als der Dichand, das muss, wenn man den Ausführungen Muchas folgt, wohl auf Manipulation zurückzuführen sein.

Und in ähnlicher Weise geht es immerweiter. Und erneut macht Mucha Oscar Bronner persönlich dafür verantwortlich, was UserInnen auf derstandard.at anlässlich der Todesmeldung von - diesmal - Gastronomiekritiker Christoph Wagner gepostet haben:

"Dass Sie, Herr Bronner, all dies zulassen, nur um des schnöden Mammons willen, halte ich für wahrhaftig schäbig. [...] Vor einem Medium, das jede Würde eingebüßt hat, und das 'Pietät' vorsätzlich so mit Füßen tritt, wie Ihr Standard, habe ich freilich jeden Respekt verloren."
Im Übrigen frage ich mich, wie jemand wie Herr Mucha, der sich offenbar aus tiefster emotionaler Regung heraus über "Profit-Macherei" beklagt, sein Magazin "extradienst" hinter satten drei (!) Doppelseiten Werbung - der Umschlag sogar aufklappbar als quasi "trippelseitige" Werbung - verstecken kann, bevor man überhaupt erst auf die erste inhaltstragende Seite (das Inhaltsverzeichnis auf Seite 10) stoßt. Und was Herr Mucha alles über krone.at und seine Leser- und UserInnen zu sagen hat, würde mich auch stark interessieren. Das ganze Editorial findet sich übrigens in der "extradienst"-Ausgabe 07-08 vom 16. Juli 2010 auf Seite 12 und - unterbrochen durch ein ganzseitiges Inserat - 14. Oder online.

Links

Da sich das ganze bereits im Juli abspielte gibt es bereits einige Reaktionen zu Muchas Editorial. Auf den unterschwelligen Antisemitismus geht allerdings niemand ein:
- heute.at, 22. Juli 2010: "Standard": Mucha kritisiert Webportal
- derstandard.at, 23. Juli 2010: Der Saubermucha war da
- bernhardkraut.wordpress.com, 26. Juli 2010: Christian W. Mucha - Eines der Prusterale
- Antwort von extradienst auf Antwort des Standard, ohne Datum
- Muchas Webseite (www.mucha.at)

Samstag, 9. Oktober 2010

Ein paar Eindrücke vom FPÖ-Wahlkampf am Stephansplatz

Am Donnerstag, den 7. Oktober, drei Tage vor den Wiener Wahlen 2010, lud FPÖ-Parteiobmann Strache zur großen Schlusskundgebung auf den Stephansplatz, direkt vor dem Stephansdom. Etwa 1.500 Menschen fanden sich schließlich ein, als HC Strache gegen 18:30 Uhr zu seiner Rede antrat. Doch bereits 1,5 Stunden zuvor hatte der Frontman der "John Otti-Band", die in diesem Herbst offenbar jede Kundgebung Straches musikalisch begleitete (das ganze Programm einer typischen Cover-Band, von "Hang on Snoopy" bis zu "Ein Stern, der deinen Namen trägt" usw.), von "4000 bis 5000 sind bereits da" gesprochen, "und viele mehr werden noch kommen". Doch dass man es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nimmt, wurde an diesem Abend noch an zahlreichen weiteren Beispielen eindrucksvoller bewiesen.

Erster Akt: die Linken

Als nach der Band Straches Einpeitscher (keine Ahnung, wie der heißt) die Bühne betrat, nahm man die anwesenden linken GegendemonstrantInnen zum Anlass, im Publikum mal für "ordentlich Stimmung" zu sorgen. Was sei bloß aus den Linken geworden, fragte er ins Publikum. "Früher" kamen noch zahlreiche Leute um gegen die FPÖ zu hetzen, aber heute hört man kaum noch Pfiffe von ganz hinten (was vielleicht auch daran liegt, dass die FPÖ mit ihren Securities, die wiederum die Polizei zu Hilfe holen, alle pfeifenden und "Buh" rufenden Menschen rasch entfernen und hinter eine Polizeikette verbannen lässt). Ja, schließlich machte sich der Redner "ernsthaft" Sorgen um die Linken, man müsse sie offenbar bald unter "Artenschutz" stellen. Heftiger Applaus und Gelächter im Publikum.

Dass er es mit der Besorgnis um die Linken doch nicht so ernst nahm, wurde aber schon in den nächsten Sätzen deutlich: Die arbeitsscheuen Linken würden "nicht duschen", "nicht arbeiten" und auf Kosten des Staates leben. Und überhaupt würden sie nur noch existieren, da sie vom "Futtertrog" der SPÖ ernährt werden. Da könne ein "Bürgermeister Strache" viel Geld einsparen. Und dann nochmal: Die Linken stehen spät auf, weil sie ja faul sind und nicht arbeiten, und eine Dusche hätten sie vermutlich noch nie von Innen gesehen. Das musste er nochmals erwähnen, um das Kapitel "Linke Hetzer" mit dem Spruch aller Sprüche zu beenden: "...aber ich sage euch eins, liebe Freunde, mir stinken die Linken!" - tosender Applaus, Gelächter, der Vorhang fällt, Ende der ersten Akts.

Gegner der Strache-FPÖ waren unerwünscht und wurden nach und nach entfernt:



Weitere Videos von der Kundgebung:
- Wer Strache nicht zujubelt, wird entfernt
- Gegendemo kommt an, Polizei marschiert ein und fordert Auflösung der Versammlung
- Zweite Gegendemo mit FPÖ-Anhängern direkt gegenüber
- Strache-Zitat: "Willst du eine soziale Wohnung haben, musst du nur ein Kopftuch tragen"
- Strache will "hunderte Millionen" bei SPÖ-nahen Vereinen sparen und vereinnahmt die Polizei

Zweiter Akt: FPÖ und die Polizei

Mittlerweile traf auch eine etwa 150 Teilnehmer starke Anti-Strache-Demo, die tatsächlich von SPÖ-Jugendorganisationen ausging, am Stephansplatz ein. Bereits deutlich länger befand sich dort auch eine Gruppe der Kommunistischen Jugend (KJÖ), die an einem Infostand unter anderem Parodien von FPÖ-Wahlplakaten präsentierte: etwa "Hatschi-Stratschis Luftballon", eine Abwandlung des ähnlich lautenden Kinderbuches. Nur, dass hier "Hatschi-Stratschi" (oder wie auch immer die Schreibweise war/ist) selbst "Opfer" des Ballonfahrers "aus dem Morgenland" wurde.

Je näher der Auftritt Straches rückte, um so voller wurde der Platz. Sowohl FPÖ-Anhänger als auch FPÖ-Gegner waren immer zahlreicher anwesend. Als Reaktion auf die eingetroffene Anti-Strache-Demo errichtete die Polizei eine Kette zwischen dem U-Bahn-Aufgang vor dem Stephansdom und dem Stephansdom selbst. Kurz darauf wurde noch ein Polizeiwagen dazu gestellt, der in den folgenden Minuten drei Mal durchsagte, die Demo sei eine unangemeldete Versammlung und habe sich zügig aufzulösen - was selbstredlich nicht geschah. Die Polizei verstärkte die Absperrung nun, vorübergehend schien es, als wolle die Polizei die Gegendemonstration unter "Anwendung von Zwangsmitteln" (wie das in der Amtssprache so schön heißt) auflösen. Doch da die Demo zwar laut, aber friedlich war, entschied man sich offenbar, sie zu tolerieren.

Der "Anheizer" der FPÖ hatte zwar im Zuge seiner Polizei-Lobes-Rede, noch bevor die Gegendemo eintraf, von einem "gewaltbereiten Mob" gesprochen, der die FPÖ bei öffentlichen Auftritten bedrohe und mit Flaschen und Gegenständen werfen würde (also sind die Linken jetzt artenschutzwürdig oder sind sie eine ernstzunehmende Bedrohung für die FPÖ?) - doch zum Glück habe Wien so eine anständige und fleißige Polizei, die die FPÖ vor diesen Leuten beschütze. Dafür sei ihr zu danken, und überhaupt würden Polizisten ständig zu Unrecht kritisiert, wie auch Strache später nochmals betonte. "Alle Parteien" würden immer sofort die Polizei attackieren, wenn bei einem Polizei-Einsatz ein "Krimineller" verletzt oder getötet würde. Ja, die Polizisten hätten heutzutage schon "Angst, die Waffe zu gebrauchen", so Strache später. Aber die FPÖ stehe voll und ganz hinter der Polizei und so weiter... Wie eng die FPÖ mit der Wiener Polizei kann, zeigte dann auch ein scheinbar wichtiger Einsatz eines Polizisten, der sich in hektischem Schritt durch die Menge vor der FPÖ-Bühne drängte, begleitet von einem in einer "AUF"-Jacke (Freiheitliche Polizei-Gewerkschaft) - kurz darauf kamen beide zurück, der Polizist mit einer Steige "Red Bull", der "AUF"-Gewerkschafter mit einer Steige Bier. Beides wurde in den Polizeiwagen bei der Polizeikette gebracht.

Im Laufe des Abends, als die Securities und die Polizei noch nicht alle Gegendemonstranten aus dem inneren des mittlerweile aufgezogenen Polizeikordons herausgedrängt hatten, gab es auch mehrmals Übergriffe durch (sehr) alte Männer, die einmal mit dem erhobenen Gehstock wütend die "arbeitsscheue" Jugend bedrohten, oder ein anderes Mal mit erhobener Hand (nein, nicht ausgestreckte; eher die (groß)väterlich drohende Detschn-Hand) und wüsten verbalen Beschimpfungen den Teenies nahegingen. Ansonsten blieben sowohl FPÖ-Anhänger als auch Gegendemonstranten friedlich. Ein paar Wortgefechte ausgenommen. Auch die zumeist glatzköpfigen Securities waren zwar streng und kamen den Strache-Gegnern am Rand des Publikumsbereichs auch sehr nahe, überließen die Rausschmeiß-Arbeit, sofern überhaupt nötig, dann doch der Polizei.

Lediglich am Ende der Kundgebung, als sich alles auflöste, gab es noch einen unschönen Zwischenfall, den ich beobachten "durfte". Zwei Mädchen verließen gerade die (Gegen-)Kundgebung und riefen noch einmal "Nazis raus" oder so ähnlich - woraufhin eines der Mädchen von einem großen Security am Arm gepackt und "zur Rede" gestellt wurde. So vonwegen, sie sollen verschwinden. Als sich die Mädchen aufregten ("lass mich los") und der Security aber nicht nachgab, kam ein jüngerer Security (einer von denen mit dem "Scorpions"-Logo), der dem Akzent zufolge Migrationshintergrund haben dürfte, und stellte sich schützend vor die Mädchen. Es entwickelte sich ein heftiges Wortgefecht zwischen dem scheinbar altgedienten FPÖ-Security, der sich selbst "Sicherheitschef der FPÖ" nennt und dem Jungen, der sich empörte, dass man so nicht mit Frauen umgehe. Man setze das bitte auch mal in Verhältnis mit der FPÖ-Kampagne "Wir schützen freie Frauen". Fragt sich, WER genau da eigentlich die Frauen schützt?



"Sicherheitschef der FPÖ" (Eigenbezeichnung) schubst Mädchen, junger Security mit Migationshintergrund schützt sie und wird dafür mit der Kündigung bedroht

Dritter Akt: Politische GegnerInnen

Bei der SPÖ und den Grünen scheint Strache nur jene wahrzunehmen, die seiner Ansicht nach Migrationshintergrund haben. Er mag es zum Beispiel nicht, dass die Grünen Österreich immer schlecht reden, und er konkretisiert das Wort "Grüne" mit "Korun, Vassilakou und Stojsits", die doch "nach Hause gehen" [!] sollen, wenn es ihnen "hier" nicht gefällt. Dass Terezija Stoisits im Burgenland geboren ist und Teil der seit Monarchie-Zeiten im Burgenland ansäßigen und anerkannten lokalen Minderheit der Burgenlandkroaten ist, scheint ihn dabei nicht zu stören. Meint er also, sie solle "zurück" nach Kroatien (was demzufolge alle Burgenlandkroaten, inklusive z.B. "Ostbahn-Kurti" Willi Resetarits, sollten), oder zurück ins Burgenland? Beides ist ziemlich absurd. Bei Jörg Haider hat sich auch nie jemand beschwert, er solle zurück nach Oberösterreich, oder Herbert Kickl zurück nach Kärnten. Dass Österreich natürlich auch für Korun und Vassilakou die Heimat ist, muss nicht extra erwähnt werden, aber da diese nicht in Österreich geboren wurden gilt das in der Logik der FPÖ und ihrer Wähler nicht als Argument gegen die "Heimkehr"-Aufforderung.

Auch das Parkplatz-Thema wurde angesprochen. Die Grünen kommen dabei natürlich nicht gut weg, denn sie wollen, so Strache, eine "Öffi-Pflicht" einführen.

Äußerst merkwürdig auch die Attacke auf "Petr" Baxant, der "aus Tschechien" stammt, was Strache übrigens "nur deshalb" erwähne, weil er "offensichtlich" den in seiner Kindheit vorherrschenden Kommunismus in sich aufgesogen habe (Zumindest seine Gymnasialzeit verbrachte Baxant laut Wikipedia in Klosterneuburg, sei nur mal angemerkt). Dass ein nicht unerheblicher Teil der Wiener, auch unter FPÖ-Wählern, tschechische Familiennamen haben scheint ebenfalls kein Hinderungsgrund zu sein, über "die Tschechen" zu lästern.

Außerdem: Seine politischen Gegner, wobei vor allem "die Linken" gemeint sein dürften, würden statt mit Argumenten immer mit haltlosen Behauptungen und der "linken Faschismuskeule" kommen, obwohl Strache ja nur die Wahrheit sage...

Strache, die SPÖ und der Antisemitismus

Herzig auch, wie vehement sich Strache gegen [!] Antisemitismus stark macht. Zumindest, wenn dieser beim SPÖ-Abgeordneten Omar Al-Rawi verortet wird, der laut Strache "aus Syrien oder dem Iran" kommt und auf der Wiener Ringstraße "mit Zehntausenden" (es waren ca. 5.000) "vorwiegend türkischstämmigen Wienern" gegen Israel gehetzt habe. Nein, sowas habe in Österreich keinen Platz, gibt sich Strache konsequent, in Österreich dürfe Antisemitismus keinen Platz haben. Das Publikum applaudiert, zumindest die Hälfte. Einer direkt vor mir stehenden Gruppe älterer Herren kostet diese Aussage aber nur ein verschmitztes lächeln. Applaus gibts von ihnen keinen. Und was den Umgang mit Antisemitismus innerhalb der FPÖ betrifft, scheint es Strache ohnehin nicht ganz so streng zu nehmen, wie mit Antisemitismus unter Türken.

Die Überfremdung und andere "Tatsachen"

Faksimile: Alexia Weiss in: Die Gemeinde, Nr 677, September 2010, S. 7

Nicht fehlen durfte natürlich auch das Thema "Überfremdung" - "Beweis" Nummer eins: 90 % der Kinder in den Volksschulen haben Migrationshintergrund. Ja, ob denn Wien noch unser Wien sei? Wohin das wohl noch führe? Wer solle Wien retten? Ja, es müsse auf jeden Fall gerettet werden...! "Unser Wien" müsse bewahrt, geschützt und verteidigt werden. Dass die Zuwanderung in den letzten zehn Jahren immer noch geringer war, als zu Zeiten der Monarchie, als hunderttausende Ungarn, Tschechen, Polen, Rumänen uvm. dauerhaft nach Wien übersiedelten, und dies keineswegs dazu geführt hat, dass Wien heute nicht mehr Wien wäre, wird nicht erwähnt. Aufgrund dieser Zuwanderung ist Wien heute "unser Wien", wie wir es kennen. Und die gegenwärtige Zuwanderung wird Wien um die eine oder andere Facette bereichern, aber die übrigen Wiener sicher nicht "weniger Wiener" werden lassen. Aber derartiges ist von Strache natürlich nicht zu hören.

Im Übrigen: Er habe ja nichts gegen "anständige Ausländer, die sich integrieren" - mal abgesehen davon, wenn diese Integration "illegal" erfolgt, wie man an den Fällen Zogaj, Komani und den vielen anderen, öffentlich weniger bekannten Fällen, siehen kann. Und dass Strache ständig nur jene Türken und Moslems erwähnt, die seiner Ansicht nach in Parallelgesellschaften leben würden, sich nicht integrieren würden, nicht deutsch lernen würden und antisemitisch seien, das scheint ebenfalls kein Widerspruch zu seiner "ich hab ja grundsätzlich nix gegen Ausländer"-Masche zu sein. Und einen "Zuwanderungsstopp" fordert er trotzdem ebenso, wie auch "Österreicher zuerst", wenn es um Gemeindebauwohnungen oder Kindergärten geht.

Ob das die Integration fördern würde, wenn Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen keine Kindergartenplätze kriegen, weil "Österreicher zuerst" rein dürfen, oder die Familien statt in leistbaren Gemeindebauten in billigeren Stadtteilen in Altbauwohnungen zusammengepfercht leben? Strache will also Ausländer, die sich integrieren - aber helfen will er ihnen dabei scheinbar nicht wirklich. Ganz im Gegenteil. Ausländer sollen diese und jene Pflichten erfüllen, und wenn nicht, sollen sie bestraft werden - sei es mit Entzug von Förderungen und Beihilfen oder gar mit Abschiebung schon bei der geringsten Straftat.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Freunde schützen: Kinder in Schubhaft – spontane Soli-Demo in Wiener Innenstadt

[Foto: Ausschnitt aus Video auf ichmachpolitik.at; CC by-nc-sa Stefan Deutsch]

Gestern Früh, 6:30 Uhr, wurden zwei achtjährige Kinder (in früheren Meldungen hieß es noch Neunjährige) gemeinsam mit ihrem Vater (die Mutter liegt wegen Suizidgefahr im Krankenhaus) von zivilen sowie uniformierten Polizisten der Fremdenpolizei und der WEGA festgenommen und in ein Schubhaftzentrum gebracht. "Anziehen und mitkommen", wurden die drei aus dem Schlaf gerissen (derstandard.at). Kaum noch eine Erwähnung wert, da bei frühmorgendlichen Abschiebungen in Österreich, zwischen 4 und 6:30 Früh, ganz normal: Die Kinder durften nicht einmal ihre Sachen einpacken (Kleine Zeitung). Sogar ein Stg77, ein Sturmgewehr, hatte zumindest einer der Beamten bei sich, als die Wohnung der drei künftigen "Schüblinge" betreten wurde.

Die bevollmächtigte Rechtsvertreterin der Familie Komani, Karin Klaric, wurde nicht als solche akzeptiert, obwohl sie den Beamten die schriftliche Vollmacht sogar vor die Nasen hielt. Die Familie Komani wurde ohne ihre Anwältin in das Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände gebracht.

[Foto: Die beiden Kinder im Polizeiwagen; CC by-nc-sa Stefan Deutsch]

Schließlich findet am Folgetag (7.10.) der nächste Frontex-Flug statt und es sind noch Plätze frei, die, wie wir mittlerweile alle wissen, aufgrund der hohen Kosten pro Flug auch gefüllt werden "sollten". Darauf ist Fekter stolz: Auf die professionellen, effizienten und vergleichsweise kostengünstigen Frontex-Abschiebeflüge, die Österreich zu einer beliebten Abschiebe-Drehscheibe für die gesamte EU machten. Schließlich muss mit unserem Steuergeld ja effizient umgegangen werden (ob es nicht effizienter wäre, gut integrierte, unbescholtene Bürger, die bestens deutsch sprechen einfach hier leben zu lassen, diese Frage kommt aus Angst vor Wahl-Gewinnen der FPÖ merkwürdigerweise niemandem in den Sinn. "Merkwürdigerweise" legt die FPÖ bei Wahlen aber trotzdem zu). Das ist auch der Grund, warum man nicht auf die "Genesung" der Mutter wartet. Zudem ist "der Zeitpunkt der Genesung ungewiss", wie die Vize-Präsidentin der Wiener Polizei die Abschiebung zum jetzigen Zeitpunkt unter anderem rechtfertigt (ZIB2, 6.10. (Youtube)). Anmerkung: Die Mutter wurde erst diesen Dienstag, also am Vortag, eingeliefert.

Um sicherzugehen, dass keine "linksextremen Terroristen" durch verbales Beschweren, filmen oder fotografieren die frühmorgendliche (immerhin nicht schon um 4 Uhr, wie auch schon oft genug geschehen, z.B. in Röthis) Amtshandlung sabotieren, waren auch Beamte des Amts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung anwesend. Die sind übrigens Stammgäste bei jeder Versammlung der Zivilgesellschaft (so nenne ich das), bzw. "[potentiellen?] Linksextremen" (so sieht das wohl ihre Chefin, Ministerin Fekter), daher erkennen sie viele auch sofort.

Die ganze Aktion war absehbar. Bereits vergangene Nacht wurde "Alarm ausgelöst" im "Freunde schützen"-Haus des vor kurzem neu gegründeten Vereins Purple Sheep. Unter den wenigen, die dem Alarm folgten und tatsächlich die Nacht in der Arndstraße 88 verbrachten, waren auch "Angehörige" von WienTV, das auch den ersten Videobericht nach der frühmorgendlichen Abschiebung veröffentlichte (Neunjährige Zwillinge mit Vater im Gefängnis). Die Wiener Zeitung lässt es sich übrigens nicht nehmen, über die Anwesenheit von WienTV und anderen Medien zu spotten: Würde nicht, wie schon bei den Zogajs, so ein "Medienrummel" um die Abschiebungen veranstaltet, hätte das Innenministerium ja "still und leise eine Lösung" finden können (!). Dass die Wiener Zeitung offensichtlich erst auf WienTV gesehen hat, was vor Ort eigentlich wirklich (abseits der Polizei-Pressemeldungen) geschehen ist, sagt sie natürlich nicht dazu.

Humanitäres Bleiberecht ist kein Recht

[Screenshot: (c) ORF, ZIB2, von tvthek.orf.at]


Was hat die Familie verbrochen? Nichts. Selbst der ORF zeigt mit einer anschaulichen Infotafel, dass die Familie alle Bedingungen des Humanitären Bleiberechts erfüllt. Doch: "Wenn das alles erfüllt ist, dann können die Behörden immer noch sein sagen", so der ORF.

Die ursprünglich "illegal" aus dem Kosovo geflohene Familie lebt seit sechs Jahren in Österreich, die Kinder sind hier aufgewachsen, die Familie ist unbescholten, gut integriert, sprechen ausgezeichnet deutsch, wie auch Armin Wolf in der ZIB2 betonte. Eigentlich eine Vorzeige-Immigranten-Familie. Doch das "Humanitäre Bleiberecht" ist kein Recht. Es gibt keinen Rechtsanspruch darauf. Die Behörden entscheiden letztendlich nach eigenem Ermessen, ob jemand aus humanitären Gründen bleiben darf, oder nicht. Und da diese Behörden dem Innenministerium unterstehen, dass eine klare Abschiebepolitik vorgibt, ist es kein Wunder, das 60 % der Anträge auf Humanitäres Bleiberecht, das sind 4.000 Fälle (Quelle: ZIB2, ORF, 6.10.2010), negativ beschieden werden. Ganz egal wie gut eine Familie deutsch spricht, wie brav sie arbeiten geht, wie gut sie integriert sind.

ORF und die Familie Komani

[Foto: Medien vor dem PAZ Rossauer Lände; CC by-nc-sa Daniel Hrncir]

Auch der ORF griff das Thema rasch auf und führte vor dem PAZ Rossauer Lände erste Interviews. Vor zwei Wochen hatte die ZIB2 noch den Umzug der Familie Komani ins damals neue "Freunde schützen"-Haus dokumentiert. Also berichtete die Zeit im Bild um 13 Uhr ("Schubhaft für Neunjährige" (Youtube-Link), Dauer 1:10), um 17 Uhr ("Heftige Kritik an Abschiebungen", Dauer 0:33), um 19:30 ("Dramatische Szenen", Dauer 1:38) und schließlich auch in der ZIB24, gegen Mitternacht ("Große Aufregung" (Youtube-Link), Dauer 2:12).

In der ZIB2 um 22 Uhr ("Kritik am Vorgehen der Polizei" (Youtube-Link), Dauer 9:37) lässt sich der ORF auch vom Neusprech der Polizei nicht beirren: "Weil man Kinder nicht einfach so in Schubhaft nehmen kann, nennt es die Polizei jetzt einfach anders – nämlich 'Festnahme zur Sicherung der Abschiebung' – kommt aber aufs Gleiche raus. Die Kinder sitzen hinter Gitter."

Ministerin Fekter wollte nicht in die ZIB2 kommen, da sie "Einzelfälle" nicht kommentiere (das mit den "Rehleinaugen" war wohl ebenso pauschal auf alle Asylsuchenden bezogen). Statt ihr kam die Vize-Präsidentin der Wiener Polizei, Michaela Kardeis, die die undankbare Aufgabe bekam, eine an Unmenschlichkeit kaum zu überbietende Handlung der Polizei zu rechtfertigen. Doch sie nahm die Aufgabe konsequent wahr und betonte, dass die Gesetzeslage nun mal so ist, wie sie ist. Sie erwähnte auch mehrmals bewusst, dass die Polizei die Gesetze schließlich nur "umzuschieben, äh, umzusetzen" (bei 6:05) habe, und dass diese im österreichischen Parlament beschlossen werden. Gesetze "umzuschieben", wenn es etwa um Landeshauptleute oder Journalisten geht, scheint kein Problem zu sein. Doch wenn es um zugewanderte Familien geht, die sich noch dazu einbilden, durch Integration der "Beendung ihres illegalen Aufenthaltsstatus" zu entgehen, da muss der "Rechtsstaat" hart durchgreifen.

Auf Fragen in die Richtung, ob Polizeibeamte oder sie selbst denn keine Bedenken hätten, auch aufgrund der Kritik, dass derartige Abschiebungen menschenrechtswidrig wären, ließ sie sich nicht ein. Nicht einmal indirekte Kritik wollte sie an der aktuellen Gesetzeslage bzw. Politik üben. Das Gesetz habe sich in der Praxis bewährt, antwortete sie kurz auf die entsprechende Frage.

Wenn achtjährige Kinder eine Bedrohung für die Republik Österreich darstellen

Dennoch offenbarte das Interview einige grundlegende Grausamkeiten, die die aktuelle Gesetzeslage in Österreich für den Umgang mit MigrantInnen vorsieht: Humanitäres Bleiberecht ist kein Recht, es ist Willkür. Und selbst wenn es gewährt werden würde, schaffen die Behörden mit vorschnellen Abschiebebescheiden oft vorzeitig "vollendete Tatsachen". Dass die Polizei menschenrechtlich gesehen nicht derart Familien zerreißen dürfe, wird auch von der Vize-Polizeipräsidentin mit dem einzig zulässigen Schlupfwinkel erklärt: die Abschiebung könne dennoch rechtlich korrekt erfolgen, wenn "es erforderlich ist, im Interesse des Wohles des Landes, der öffentlichen Sicherheit, Ruhe, Ordnung" (Zitat Kardeis, ZIB2, bei 6:50).

Dass diese unbescholtene Familie, deren Mutter bereits an den Rand des Selbstmords getrieben wurde (auch hier: unschöne Ähnlichkeit zum Fall Zogaj), abgeschoben wird, wird also mit der Bedrohung von Ruhe und Ordnung, der Bedrohung der "öffentlichen Sicherheit", ja einer Bedrohung für die Republik Österreich begründet! Merke: Flüchtlinge, Immigranten sind eine Bedrohung für dieses Land! So sieht es das Gesetz, auf jeden Fall aber seine Umsetzung in der Praxis.

Spontane Kundgebung

[Foto: Kundgebung vor dem PAZ Rossauer Lände gegen 18:30/19 Uhr; CC by-nc-sa Daniel Hrncir]

Im Laufe des Tages verbreitete sich die Kunde von dieser bevorstehenden, unmenschlichen Abschiebe-Aktion. Auf Facebook, Twitter, via Telefon und SMS wurde die Kunde von der Kundgebung um 18 Uhr vor dem Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände, wo bereits vor einigen Monaten die FC Sans Papiers-Soli-Demos abgehalten wurden, verbreitet. Einige Journalisten, Fotografen, der ORF sowie etwa 200 bis 300 DemonstrantInnen, inklusive mehrerer Grün-Politiker, folgten dem Aufruf. Und die Polizei folgte dem Gesetz: Gegen 19 Uhr wurde per Megaphon die Räumung der unangemeldeten Demo angekündigt. Teil dieser Tonband-Durchsage war auch, dass diese Versammlung eine "Bedrohung für die öffentliche Sicherheit" darstelle und, jetzt kommts, den Straßenverkehr behindere! (Die gesamte Durchsage im O-Ton auf diesem Video ab Minute 1:00) Ja, irgendwann lernt jeder guter Staatsbürger, dass in Österreich das Recht vom Recht auf freien Straßenverkehr und vom Recht auf freie Parkplätze abgeleitet wird.

Spontane Demo: Niemals stehen bleiben

[Foto: Nach mehrfacher Drohung der Auflösung der Kundgebung setzt diese sich via Kai in Bewegung; CC by-nc-sa Daniel Hrncir]

Außer lautstarkem Getöse und Buh-Rufen gab es jedoch keine Reaktion, auch nach der zweiten und dritten Ankündigung. Die Polizei stockte ihr (bescheidenes) Kontingent nach und nach auf. Einige Leute setzten sich auf die Straße. Als die Polizeikette mehrere Schritte nach vorne trat, setzte sich die Menge in Bewegung. Wie bei früheren unangemeldeten Demos hat sich auch hier wieder gezeigt, dass nur die Flucht nach Vorne bleibt: Immer in Bewegung bleiben! Das war dann auch das inoffizielle Motto der "unendlichen" Demonstration. Bloß nicht zu lange stehen bleiben, sonst wird gekesselt und es gibt eine Anzeigenflut. So zeigen es die Erfahrungen von früheren Demos gegen Abschiebungen, gegen Rechtsextremismus.

Seit der No-WKR-Demo im Jänner 2010 ist das Vertrauen in die Polizei bei Demonstranten ohnehin dahin. Damals wurden 677 Personen wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz angezeigt – obwohl laut Polizeiangaben nur 500 Personen an der Demo teilnahmen. Der Grund: es wurden rücksichtslos auch Büroangestellte am Nachhauseweg, verirrte Touristen, Lokal- und Café-Besucher und sogar Personen, die als letzte Kunden gegen 19 Uhr die Hofer-Filiale verließen, eingekesselt, teilweise bis 2 Uhr früh festgehalten (man ging die Sache gemütlich an, schließlich sollte nicht die Gelegenheit geboten werden, dass sich die "freigelassenen" Demonstranten anschließend wiederversammeln). Seither, und dazu muss man der Polizei wirklich gratulieren, fürchten viele Demonstrierende, bei jeder erstbesten Gelegenheit gekesselt, möglicherweise stundenlang festgehalten und auf jeden Fall wegen diverser "Vergehen" angezeigt zu werden. So viel zur Versammlungsfreiheit in Österreich, in Wien, 2010.

Folge dieser harten (wohl Fekter zuzuschreibenden) Politik, die eindeutig gegen "linke Demonstrationen" gerichtet ist (ungeachtet, ob die wirklich alle links sind oder sich einfach für Menschenrechte, für ihre Mitmenschen einsetzen) und zum Schutz des "rechten Establishments" (rassistische Gesetze, Burschenschafter-Bälle, rechtsextreme Demos, FPÖ-Veranstaltungen usw.) dient, ist unter anderem die Zunahme unangemeldeter, länger andauernder Demonstrationen auf spontan festgelegten Routen.

Demo-Verlauf

[Foto: Demo am Ring, Richtung Schottentor und Rathaus; CC by-nc-sa Daniel Hrncir]

Eine sehr laute Demo setzte sich in Bewegung. Etwa 300 Leute zogen über den Kai und die Maria-Theresien-Straße rauf zum Schottentor. Die Polizei sicherte die Straßen, der restliche Trott trottete hinterher. Ein paar haben sich auch in den VW-Bussen chauffieren lassen. Insgesamt aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viele. Jedenfalls nicht im Vergleich zu früheren Demos, und seien es bloß unibrennt-Demos gewesen.

Ziel war das Rathaus, das man über die Ringstraße und jene Seitenstraße neben der Uni erreichte. Die Polizei, genauer gesagt etwa 8 bis 10 Polizisten, versuchten, den breiten seitlichen Zugang zum Rathausplatz "abzuriegeln", was natürlich kaum jemanden beeindruckte. Eine hölzerne, rot-weiße, hüfthohe Baustellenabsperrung (!) wurde sogar verwendet (oder sie stand schon da, ist letztlich egal) um den Gehsteig (der Straße vor dem Rathaus) abzusperren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kam erstmals die Frage auf, ob die Polizei vielleicht unterbesetzt ist an diesem Tag. Denn bei vergleichbaren illegalen Demos hat man es oft rasch mit mehreren Hundert Polizisten und Kolonnen aus Dutzenden VW-Bussen, ja sogar großen Polizei-"Reisebussen" zu tun (so etwa bei einer der letzten Anti-Abschiebungsdemos vor den Sommerferien, an der etwa 200 Personen teilnahmen).

Viele sind sich aber auch sicher, dass die Polizei, wären nicht grüne Nationalratsabgeordnete und der ORF da, deutlich härter vorgegangen wäre. Man erinnere sich an vergleichbare Aktionen im Zuge der FC Sans Papiers-Abschiebungen: Als sich nach einer unangemeldeten Kundgebung vor dem PAZ Rossauer Lände die Leute in Bewegung setzten, blieb die Polizei dran und zerschlug die Demo auf Höhe Schwedenplatz – die Menge zerstreute sich in den Gassen der angrenzenden Innenstadt.

Am Weg zum Rathaus wurde "Nieder, nieder, nieder mit der SPÖ" geschrien. Anschließend ging es an der ÖVP-Zentrale vorbei, und es hieß "Nieder, nieder, nieder mit der ÖVP". Ebenfalls "Spruch des Zeitpunkts": Vor der Wahl, nach der Wahl, kein Mensch ist illegal. Dass sich Häupl als Bürgermeister nicht zu den Abschiebungen äußert, oder nach Vorbild des Bürgermeisters von Röthis in Vorarlberg, sich schützend vor integrierte Familien stellt, nehmen ihm viele krumm. Woher der Hass auf die ÖVP kommt, muss wohl nicht extra erklärt werden.

Die am häufigsten gerufen Parolen waren ohnehin eher folgende:
- Erst freie Menschen, dann freie Straßen
- Say it loud, say it here [oder: clear], refugees are welcome here
- Abschiebung ist Folter, Abschiebung ist Mord, Bleiberecht für alle und sofort
- Um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und auf Dauer

[Foto: Beinahe wäre das Innenministerium gestürmt worden; CC by-nc-sa Daniel Hrncir]

Über Auerspergstraße, Schmerlingplatz und Bellariastraße ging es dann wieder zum Ring. Ein Teil dachte, die SPÖ-Zentrale in der Löwelstraße wäre das nächste Ziel, doch die Mehrheit bog Richtung Heldenplatz ab. Das Ziel war nun das Innenministerium, das via Ballhausplatz am Minoritenplatz erreicht wurde. Nach wie vor waren etwa 250 Personen anwesend, der Minoritenplatz wurde gestürmt. Mehrere Polizisten postierten sich eilig vor dem Eingangstor des Innenministeriums, das Tor schloss sich langsam. Da die Demo von der ersten bis zur letzten Sekunde friedlich war, reichten diese fünf Polizisten, um eine Stürmung des Ministeriums zu verhindern. Die neue Parole am Minoritenplatz lautete nun: "MigrantInnen bleiben, Fekter vertreiben".

Eigentlich wäre der Minoritenplatz ein guter Ort für eine Art Schlusskundgebung gewesen. Doch von allen Seiten wurden wir längst von VW-Bussen der Polizei umkreist, und der Minoritenplatz gibt an sich einen guten "Kessel" ab. Der erfahrenere Teil der Demonstranten war ziemlich unruhig und drängte darauf, weiterzugehen. Nach 5 bis 10 Minuten zog die Menge daher auch tatsächlich weiter – allerdings gab es nun kein Ziel mehr. Erste Diskussionen entstanden in der Herrengasse. Da es eine spontane, unangemeldete Demo war, gab es niemanden, der für alle gültige Entscheidungen treffen konnte, also standen wir alle etwas ratlos da. Am liebsten wären viele wohl am Minoritenplatz geblieben, bis die Sache sich von selbst aufgelöst hätte – so mein Eindruck. Doch wie gesagt, Stillstand kills, niemand will eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrechtes, niemand will in einem Kessel gefangen werden.

Schließlich ziehen wir über die Freyung zum Schottentor. Eine Art "Notplenum" wird mitten auf der Kreuzung abgehalten. Nach 10 bis 15 Minuten Diskussion über eine Auflösung der Demo verschwinden die meisten. Etwa 30 bis 50 Personen ziehen jedoch weiter über den Ring, zurück zum PAZ Rossauer Lände.

Ende der polizeilichen Geduld

Mitten auf der Ringstraße zog diese Gruppe also Richtung Alte Börse hinunter. Auch die Polizei schien sich kurz zu beraten, mit dem Entschluss, die Leute auf den Gehsteig zu drängen. Dies gelang mit etwa 20 Beamten eher schlecht, als Recht – die "Gruppe" war auch sehr weit verstreut unterwegs. Erst in der Maria-Theresien-Straße machte die Polizei ernst. Mit Polizeiwägen wurden die Menschen von der Straße gedrängt, unter Mithilfe von behandschuhten PolizistInnen.

Nach mehreren "Umstellungen" von etwa 20 Personen am Gehsteig – zwischendurch ging es immer wieder ein Stückchen weiter (die Polizei verzichtete offenbar auf eine konsequente Einkesselung). Vor der Rossauer Kaserne dann die letzte "Anhaltung". Mittlerweile versammelten sich auch immer mehr PolizistInnen in der Umgebung. Das Verhältnis kippte zusehends deutlich zugunsten der Polizei. Was das ganze noch für einen Sinn haben sollte, unangemeldet, umgeben von 50, 70 und mehr Polizisten, vor dem PAZ zu demonstrieren, wo wir einst nach Räumungsdrohung weggegangen sind, erschließt sich mir nach einer erfolgreichen Demo quer durch die Innenstadt zwar nicht mehr, doch hab ich auch den letzten Zug bis zu dieser Stelle noch, mit etwas Abstand, begleitet.

In etwas Abstand standen auch ein paar "alte Bekannte". Verfassungsschützer, wie mir bei früheren Demos erzählt wurde. Wenn man wissen will, ob der Staat eine Demo ernst nimmt, sollte man nach diesen Geichtern immer Ausschau halten. Je mehr, umso besser ;) Man kann sie auch ansprechen, was weniger scheue Teilnehmer an Demonstrationen auch manchmal machen. Ich gehöre allerdings nicht dazu. Dennoch hab ich sie über die Demo resümieren gehört. Der eine meinte zum anderen, es sei ja vollkommen OK und ein demokratisches Grundrecht, wenn "270 Leute" auf der Ringstraße demonstrieren. Aber wenn am Schluss nur noch "30 Leute" unbedingt weiterhin am Ring demonstrieren wollen, dann sei das einfach eine unnötige Schikane des Verkehrs – so die durchaus pragmatische Einstellung dieser Staatsbeamten zur Versammlungsfreiheit. Warum die Polizei diese Leute nicht einfach von der Straße nehme, wegen Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung, war der letzte Satz, dem ich noch gelauscht habe.

Danach ging ich. Der "harte Kern" aus etwa 20 Personen, der zu diesem Zeitpunkt bereits von etwa 50 Polizisten umgeben war, erhielt schließlich Anzeigen wegen Verstoßes gegen die Versammlungsfreiheit UND gegen die Straßenverkehrsordnung. Festnahmen gab es keine, so nochrichten, eine verlässliche Informationsquelle der Gegenöffentlichkeit auf Twitter.

Weitere Infos, Blogs, Videomaterial

Twitter:
- unter dem Hashtag #Abschiebung und/oder #purplesheep (nicht alle tweets verwende(te)n diesen Hashtag, aber viele), automatisch generierte Zusammenstellung der Links auf twazzup
- nochrichten auf Twitter: Chronik zur Demo (Achtung: wegen der täglich fortschreitenden Timeline nur in den nächsten Tagen ohne große Umstände nachsehbar)

Videos:
- ichmachpolitik.at: ungeschnittenes Video (31 Min) vom Eintreffen der Polizei und Mitnahme der Familie Komani (davon ein Zusammenschnitt, 2:16 Min)
- WienTV.org: ebenfalls von Anfang an vor Ort. Videobericht (bei Überlastung: Ersatzlink Youtube) von den Ereignissen gegen 6:30 Uhr
- Daniel Hrncir: "Abschiebungsdemo wegen Familie Komani" - geschnittenes Video von der gesamten Demo, sehr guter Überblick! (6:41 Min)

Fotos:
- kellerabteil auf flickr

Blogs (Stand: 7.10., 3 Uhr):
- bernhardjenny.wordpress.com: polizisten sind täter. kleine mädchen sind opfer. 6.10.
- franz-joseph.at: Abschiebung! Where the fuck is Häupl?, 7.10.
- haftwien.wordpress.com: Spontane Demonstration vor Schubgefängnis Rossauer Lände, 7.10.
- ... folgt noch? ;)

Samstag, 4. September 2010

Linzer Ordnungsdienst - Millionen für einer Dauer-PR-Kampagne der FPÖ

Aus gegebenem Anlass, ich bin am Ars Electronica Festival in Linz, geh ich heute mal wieder ein Stück näher an Ottensheim als in den letzten Beiträgen.

Jetzt gibt es ihn also: Den städtischen Ordnungsdienst, ursprünglich als "Stadtwache" geplant und angekündigt. Die Kompetenzen sind beschnitten, der Nutzen fragwürdiger als je zuvor. Bloß: Die Kosten sind dadurch wohl nicht gesunken und die Folgen, die die tatsächliche Einführung eines FPÖ-geführten Ordnungsdienstes in Linz mit sich bringt, sind politisch gesehen die Gleichen (wie sich der beschnittene Ordnungsdienst, der nun eher eine Kombination aus den Wiener "Waste Watchern" und "Night Watchern" darstellt, denn eine städtische Polizei, auf das gesellschaftliche Klima und das soziale Gefüge auf den viel frequentierten Straßen und Plätzen der Stadt auswirkt, wird sich erst zeigen müssen).

Grundlose, irrationale Einführung der Stadtwache vulgo Ordnungsdienst

Dass die SPÖ diesen Ordnungsdienst grundlos eingeführt hat, nämlich auf Basis einer FPÖ-Forderung, die bei den letzten Wahlen keine Mehrheit erreichen konnte (sondern nur 42,5 %, obwohl die Stadtwache eines DER Wahlkampfthemen war, vgl. meinen Blog-Eintrag vom 17.10.2009), ist wohl für sich allein kein ausreichendes Argument, um Linzer SPÖ-Politiker zum Einsehen ihres Fehlers bringen könnte (sonst wären sie der FPÖ-Forderung gar nicht erst nachgekommen). Ebenso wenig die linke Ablehnung jeglicher zusätzlicher Sicherheitsdienste, die im Grunde nur das staatliche Gewaltmonopol aushöhlen und neue rechtliche Unsicherheiten schaffen (Kompetenzen, Privat- vs. öffentliche Grundstücke usw.), die individuellen Freiheiten weiter einschränken, den Überwachungsdruck weiter erhöhen und die Gesellschaft somit scheibchenweise näher Richtung Überwachungsstaat rücken.

Auch diese Sachargumente dürften die SPÖ kaum beeindrucken. Auch, dass die Stadt Linz (und jede andere Stadt, die städtische Sicherheits- und Ordnungsdienste einführt) damit im Grunde die ÖVP-Einsparungen bei der Polizei auf Bundesebene akzeptiert, da die Kosten für öffentliche Sicherheit und Ordnung dadurch teilweise von staatlicher auf kommunale Ebene umverteilt wurden, selbst dieses Kostenargument scheint nicht zu beeindrucken.

Wenn nur ein Argument zählt, die Wählerstimmen, ist der SPÖ-Kniefall umso fataler

Zu groß ist die Angst vor der alle Wähler verschlingenden Schlange FPÖ. Aber genau da liegt das wohl psychisch fundierte Problem. Eine schwache, mit mangelndem Selbstbewusstsein ausgestattete SPÖ, verhält sich wie die Maus in der Angststarre vor der Schlange. Denn folgendes sollte der SPÖ wirklich zu denken geben - schließlich betrifft es das einzige, alles überwiegende Kalkül, dass die SPÖ offensichtlich zu diesem sachlich völlig irrationalen Schritt getrieben hat: nämlich, der FPÖ Wähler wegzunehmen bzw. die weitere Abwanderung der eigenen Wähler zur FPÖ zu verhindern oder zumindest abzuschwächen.

Aber was steht nun stadtweit auf FPÖ-Plakaten geschrieben? Etwas, dass nur völlig logisch erscheint, wenn die FPÖ ihre zentrale Forderung im letzten Wahlkampf augenscheinlich durchsetzen konnte: "Wir haben die Stadtwache umgesetzt" (oder so ähnlich). Die FPÖ feiert ihren Triumph öffentlichkeitswirksam, die SPÖ hat ihr ein großes Geschenk gemacht. Warum sollte bei der nächsten Wahl irgendein FPÖ-Wähler nicht mehr FPÖ wählen, wenn die FPÖ doch ihre Wahlkampf-Forderungen scheinbar problemlos umsetzen kann, während die SPÖ rat- und orientierungslos wirkt? Denkt die SPÖ wirklich, der FPÖ Wähler abnehmen zu können, wenn sie FPÖ-Forderungen umsetzt? So nach dem Motto "Die FPÖ hat gefordert, aber WIR haben es umgesetzt"? Wenn man die Menschen auf der Straße fragen würde, wer ihrer Ansicht nach für die Einführung des Ordnungsdienstes verantwortlich ist, wem also die "Lorbeeren" (wenn man es so sehen will) gebühren, wird wohl kaum der Name Dobusch oder SPÖ an erster Stelle fallen.

Dobusch: Effektlosigkeit darf auch was kosten!

Erstaunlich auch die Reaktion von Bürgermeister Dobusch, die seine Orientierungslosigkeit (er orientiert sich stattdessen am Populismus der FPÖ) nur untermauert: "Die Sicherheit in der Stadt kann durch [den] Ordnungsdienst weder besser noch schlechter werden" (Dobusch auf krone.at, 3.9.2010) Dass die Sicherheit in Linz "weder besser noch schlechter wird" lässt sich Dobusch gerne eine Million Euro pro Jahr, in Zukunft, nach personeller Aufstockung, sogar 1,5 bis 1,6 Mio. kosten.

Die Stadt gibt also nun Millionenbeträge für Vorhaben aus, die nach ihrer eigenen Einschätzung die gegenwärtige Situation weder beeinflussen noch verändern kann oder soll. Was ist nur aus der SPÖ (Linz) geworden?

Mittwoch, 1. September 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 5: Hausbesetzungsbewegung 1993 bis 2005

Nach der Räumung der Wohlgroth am 23. November 1993, bei der "das ganze Arsenal militärisch-polizeilicher Gewaltmittel in einem Ausmass [eingesetzt wurde], dass damit für die Schweiz neue Massstäbe gesetzt wurden", kam es zwei Nächte lang zu gewalttätigen Protesten mit über einer halben Million Franken Sachschäden in der Innenstadt. Die gewalttätigen Proteste wurden von manchen Zeitungen übrigens schon vor deren Eintreten "herbeigeschrieben". (Stahel, S. 334; Zitat aus Flugblatt "Alles wird Wohlgroth", Dezember 1993, nach Stahel, S. 356) Zahlreiche Tageszeitungen berichteten über die Räumung und die Ausschreitungen, die Rede war teilweise auch von "Berufs-Chaoten aus dem Ausland" (wohl eine Abwandlung des bei reaktionären Kräften und Medien allseits beliebten "deutschen Berufsdemonstranten").

Abkühlung bis 1996

Bis 1996 blieb es dann in Zürich vergleichsweise ruhig, die (dritte) "Besetzungs-Welle" war abgeflaut, zu Ende. Kaum eine Besetzung konnte sich länger als ein Monat halten. Darunter das "Taro" in der Limmatstrasse 28, das "zufälligerweise" einen Tag nach der Wohlgroth-Räumung besetzt wurde (also am 24. November 1993) und sich immerhin bis 5. Juli 1994 halten konnte. An dieser Stelle muss übrigens einmal angemerkt werden, dass HausbesetzerInnen grundsätzlich "vom Himmel" fallen (Zitat eines Zürcher Besetzers) - es gibt offiziell keine Kontinuitäten unter den Hausbesetzungen über einen längeren Zeitraum. Dies ist natürlich eine Schutzbehauptung, schließlich möchte kein Hausbesetzer mit einer ehemaligen Hausbesetzung in Verbindung gebracht werden, wodurch er zum Ziel von Anzeigen (Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, was auch immer...) werden könnte.

HausbesetzerInnen fallen vom Himmel!

Ich behalte mir daher vor, mich an diese Devise zu halten. Es ist zwar auszugehen, dass der Polizei durchaus bewusst ist, dass die eine oder andere Hausbesetzung mit einer ehemaligen Besetzung zusammenhängt und gewisse Kontinuitäten bestehen, doch gibt es scheinbar kein großes Bedürfnis, die gesamte Szene zu kriminalisieren und zu verfolgen - das widerspräche schließlich auch der liberalen Räumungspraxis und dem toleranteren Umgang mit Besetzern seit 1990. Doch verfügt die Polizei vermutlich trotzdem über verschiedene Aufzeichnungen zur Szene, die nicht öffentlich bekannt sind, um, wenn es den obersten Gesetzeshütern oder Stadtpolitikern "nötig" erscheint, eingreifen zu können. Man denke bloß an einen Wechsel an diesen Spitzen und geänderte politische Vorzeichen.

Daher werde ich - abgesehen von diesem nun 16 Jahre zurückliegenden Fall - keine (potentiellen) Zusammenhänge zwischen Hausbesetzungen herstellen. Es gibt regelmäßig "Übersiedelungen" von HausbesetzerInnen, die Gruppen unterliegen häufig einer regen Fluktuation - manche verlassen das Haus oder die Szene, neue kommen dazu, manchmal wechseln BewohnerInnen zwischen den Häusern. Die Daten (im Sinne des Plurals von "Datum") alleine beweisen also ohnehin noch nichts. Selbst wenn sich über 20 Jahre hinweg Verbindungen zwischen besetzten Häusern rein von den Räumungs- und Besetzungsdaten "nachweisen" lassen könnten, kann man daraus noch lange nicht schließen, dass die BesetzerInnen von damals identisch mit jenen von Heute sind. Auch Hausbesetzen ist schließlich nur in den seltensten Fällen eine "Lebensphilosophie" (in diesem Sinne, dass sie ein Leben lang gelebt wird) - nur sehr wenige HausbesetzerInnen, soweit mir bekannt, sind älter als 30, 40 Jahre. Die meisten sind wohl zwischen 15 und 25 Jahre alt.

HausbesetzerInnen - ein übles Pack?

Man denkt dabei nun sicher an SchulabbrecherInnen, "Aussteiger", ("wilde") Punks und AnarchistInnen. Doch Fakt ist: Auch HausbesetzerInnen müssen irgendwie zusammenleben, also miteinander auskommen. Menschen, die keine Rücksicht auf andere nehmen (also das ("bürgerliche"?) Klischee von "wilden" Punks und Anarchisten) haben es also, trotz dieser Klischees, auch bei Hausbesetzungen nicht leicht und müssen sich entweder an gewisse Regeln des Zusammenlebens anpassen - oder sich eine andere Bleibe suchen. Allerdings: Es gibt eine große Vielfalt von HausbesetzerInnen: Manche Häuser unterscheiden sich kaum von benachbarten Familien- oder Wohnhäusern, andere hingegen entsprechen gewissen Klischees schon eher, und man fragt sich, wie diese Leute miteinander auskommen. Dies sei an dieser Stelle auch einmal erwähnt, bevor man sich allzu realitätsfremde Bilder der Szene und der darin befindlichen Menschen macht.

Vielfach wird beklagt, auch Stahel bemerkt dies, dass heutige HausbesetzerInnen wesentlich unpolitischer sind als damalige. Das mag durchaus, in gewissem Ausmaß, stimmen: man ist (häufig) wesentlich pragmatischer. Man hat sich damit abgefunden, dass es kein "entweder oder" gibt, sondern ein Nebeneinander von verschiedenen Lebensphilosophien. Vielleicht fühlt man sich von einem gewissen Druck entlastet, seit man immer mehr der Überzeugung sein kann, dass sich der Kapitalismus ohnehin selbst zerstört. Man zieht sich daher auf seine "Inseln" zurück, grüßt freundlich die Nachbarn, die täglich um 8 ins Büro fahren, die Kinder dem Kindermädchen überlassen und am Abend heimkehren, nimmt dankbar ihre alten Möbel an, die sie gelegentlich vorbeibringen. Man polstert die Wände, Fenster und Garagentore mit Matratzen aus, bloß um die Nachbarn nicht zu sehr zu stören. Auch so kann Hausbesetzen heute aussehen. Wer diese "Regeln" des Zusammenlebens nicht beachtet, kann hingegen rasch in heftige Konflikte sowohl mit Nachbarn, als auch mit Eigentümer und Polizei bekommen. Auch das gibt es nach wie vor, aber eher bei unerfahrenen "Anfängern", und nur sehr selten. Egal ob man Party machen will, dem Kapitalismus entsagt oder einfach nur "gratis Wohnen" will - der gemeinsame Nenner bei allen Arten von Hausbesetzern, von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist: Man will in Frieden mit sich selbst, mit den Mitbewohnern, mit den Nachbarn leben.

Neuer Pragmatismus

Dieser neue Pragmatismus bringt auch Vorteile: Statt sich an unendlichen Diskussionen über die Vereinbarkeit des Seins und Tuns mit dieser oder jener Ideologie, mit dem Klassenkampf, mit der radikalen Ablehnung des Kapitalismus oder was auch immer zu beschäftigen, lebt man im Hier und Heute eine andere Lebensmöglichkeit vor. Man besorgt die Brötchen vom Bäcker nebenan, bevor dieser sie wegschmeißen muss. Man holt Gemüse, Margarine oder andere Lebensmittel vom Supermarkt-Container, da diese ihre Waren am Tag des Ablaufens oder oft sogar schon vorher (wenn für eine neue Lieferung Platz gemacht werden muss) entsorgen. Das führt dann auch zu scheinbar paradoxen Ergebnissen wie jenem, dass man im Müllcontainer des Supermarkts schönere, reifere, gelbere Bananen bekommen kann, als im Supermarkt, wo sie grün angeliefert werden und entsorgt werden, wenn sie gelb sind.

Aktionismus statt Klassenkampf

Seine politische Verantwortung als HausbesetzerIn nimmt man durch den regelmäßigen Besuch von unkommerziellen und/oder antikapitalistischen Veranstaltungen, Workshops, Versammlungen, Demonstrationen, Camps usw. wahr. Gelegentlich organisiert man eine massen- und medienwirksame Aktion, bei der absurde Auswüchse des Kapitalismus bloßgestellt werden sollen, die von den meisten Menschen weder als absurd noch als Auswuchs wahrgenommen werden, da sie in ihrem Alltag das Normalste sind, das es gibt. So zeigten AktivistInnen aus der Hausbesetzerszene im Juni 2008 ganz Zürich, was man aus einem leerstehenden Fußballstadion machen kann, wenn man nur will. Ein Wochenende lang wurde das Hardturm-Stadion besetzt, tausende Menschen, also weit über die HausbesetzerInnen-Szene hinaus, besuchten die zahlreichen angebotenen, kostenlosen oder rein kostendeckenden Angebote und Aktivitäten, die im Stadion angeboten wurden. Sogar Tageszeitungen lobten die Aktion, die zwar von gesetzeswegen illegal war, aber vom Stadionbesitzer (Credit Suisse) zwecks Imagepflege geduldet wurde (nachdem ein übereifriger Streifenpolizistentrupp zunächst versucht hatte, die Besetzung zu verhindern, und bloß so nebenbei einen bekannten Pressefotografen verprügelten, weil dieser ihre Überreaktionen fotografierte). Ein Großereignis ganz ohne Sponsoren, ohne Werbung, ohne Hunderte Securities, ohne Eintritt, alles zu rein kostendeckenden Preisen oder gratis? Und das alles ohne unerwünschte Zwischenfälle? Nicht möglich? Doch!

Hausbesetzungen 1996 bis Heute

Aber zurück zur Chronik der HausbesetzerInnenbewegung. Was sich in den 90er-Jahren geändert hat, war auch, dass sich Hausbesetzungen immer weiter außerhalb vom Zentrum der Stadt niederließen. Auch dies ist möglicherweise ein Grund zur höheren Akzeptanz und Beruhigung der Lage. Im Gegensatz zu sündteuren Innenstadt-Grundstücken im Eigentum großer Immobilienunternehmen sieht die Konfliktsituation bei kleinen Wohn- oder Gewerbegrundstücken außerhalb des Zentrums schon von Natur aus wesentlich entspannter aus. Außerdem gab es in der Innenstadt und angrenzenden Stadtteilen kaum noch leer stehende Häuser, ja eigentlich gibt es das gar nicht mehr oder nur noch kurzfristig. Hausbesitzer achten womöglich auch mehr darauf, dass keines ihrer Gebäude komplett leer steht.

Neu war auch, dass häufiger sogenannte Gebrauchsleihverträge ausgehandelt wurden: Einfache, unkomplizierte Verträge, in denen (oft nach Vermittlung der Stadt) die Besetzer mit dem Besitzer vereinbaren, wer für Strom, Wasser usw. aufzukommen hat und bis wann die Besetzung dauern "darf". Dass diese Art Verträge nicht unumstritten ist, braucht wohl nicht extra erwähnt werden, doch sind sie in manchen Fällen sicher eine verlockende, unkomplizierte Lösung.

Einen Anstieg der Neubesetzungen stellt Stahel ab 1999 fest, nachdem die Wohnungsnot wieder einmal einen Spitzenwert erreichte. In den 90ern nahm die Wohnungsnot in Zürich nicht zuletzt auch deswegen wieder zu, da die "Stadtflucht" ihre Vorzeichen änderte: Man floh nicht mehr aus der Stadt, sondern in die Stadt: die Stadt war wieder "cool", die Einwohnerzahl ging ab etwa 1990 nicht mehr zurück, sondern stieg wieder, so stark es das Wohnangebot eben zuließ.

Große mediale Aufmerksamkeit erfuhren in diesem Zeitraum die Besetzungen Egocity (Badenerstrasse 97, 13.4.2001 bis 5.1.2004, Kultursquat), Hotel Garnie (Stauffacherstrasse 180, 182, 23.6. bis 30.9.2001), Restaurant Krone (Badenerstrasse 705, 3.5. bis 16.10.2002), Cabaret Voltaire (Spiegelgasse 1, 2.2. bis 2.4.2002) und jene der Sihlpapier-Fabrik (Gieshübelstrasse 17-19, 7. bis 8. sowie 9. bis 24. Juni 1998 und 7.2. bis 19.6.2003). Ebenfalls über einen längeren Zeitraum besetzt waren in den 90ern: Buhnstrasse 11 (21.6.1990 bis 3.5.1993), Heinrichstrasse 137 (10.7.1990 bis Jänner 1993), Hegibachstrasse 86 (22.1.1991 bis Juni 1997, sowie das Nachbarhaus Nr. 88 von 22.1.1991 bis ca. 6.2.1991), Hotel Ascona (M. Lienert-Strasse 17, 12.9.1993 bis 16.3.1995), Bachmattstrasse 5 (6.12.1993 bis 1.4.1996), Sohokeller (Konradstrasse 19, 25.1.1994 bis Jänner 1996 sowie von 21. bis 24.6.1996), Glatttalstrasse 130 (Winter 1994 bis 1997), Weststrasse 46 (16.11.1996 bis 4.6.1998), Klosbachstrasse 5 (9.11.1997 bis 31.3.2002), Dolderstrasse 89 (mit "Wagenburg", 1.8.1999 bis 2003), Gletiseli (Kellerweg 65, 22.12.1999 bis 1.4.2002) sowie die wohl "etablierteste", längstwährende Besetzung der 90er-Jahre am Zürichberg in der Toblerstrasse, von November 1990 bis 11. Mai 1999.

Außerdem gab es gelegentlich Sauvagen (Besetzung für einen oder wenige Tage rein zu Party-Zwecken) und mit dem Glacegarten (Heinrichstrasse 257, 7.10. bis 9.12.1999) den ersten Kultursquat, also eine Besetzung primär zu Veranstaltungszwecken, wo Wohnen nachrangig ist.

Zwischen 2000 und 2005 gab es außerdem folgende längerwährende Besetzungen:
Plattenstrasse 32 ("Dada-Besetzung", 9.6.2002 bis April 2004, auch medial bekannt geworden, da Besetzer nach Rauswurf auf Basis eines Gebrauchsleihvertrages ihr Wohnrecht einklagen wollten, was via Medien zu heftiger Kritik von Konservativen und Rechten sowohl am Gebrauchsleihvertrag als auch an den Besetzern generell führte), Exil (Hagenbuchrain 30, 34, 16.10.2002 bis 8.2.2005), Jenatschstrasse 8, 10 (21.2.2003 bis 15.8.2006), Gakü (Kronenwiese, Oktober 2003 bis 17.3.2006), Kultursquat Rüdigerstrasse 1 (17.1.2004 bis 15.5.2006).

Auf andere, möglicherweise bekanntere Besetzungen seit 1993 kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, da es schlicht und einfach zu viele sind. Ich werde allerdings im nächsten (oder übernächsten) Teil dieser Blog-Reihe eine Art Besetzungs-Statistik auf Basis des Buches von Stahel, der über 300 Besetzungen in 35 Jahren verzeichnet hat, veröffentlichen, und evtl. auf weitere Besetzungen eingehen. Außerdem sind manche Besetzungen, die nach 2000 gestartet wurden, womöglich noch aktiv, was im 2005 erschienenen Buch jedoch lediglich als "bis ?" erkennbar sein kann (und was auch für einen unbekannten Räumungs-/Auszugstermin vor 2005 stehen kann). Meines Wissens zufolge gibt es jedoch nur wenige Besetzungen nach 2000, die bis zuletzt noch Bestand hatten. Darunter etwa die Kalkbreite (dieses Frühjahr geräumt) oder die Binz (lebendiger als je zuvor) - zu diesen wohl bedeutendsten Squats der 00er-Jahre aber ebenfalls in einem der nächsten Teile.

Dienstag, 31. August 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 4: Räumungspraxis vor und nach 1990

Mit der Räumung der Wohlgroth endet laut Stahel (Wo-Wo-Wonige) die dritte Besetzungswelle in Zürich (nach der 80er-Bewegig 1980–1983, der Netz-Zeit 1986–1987 und die Wohnungsnot-Bewegung 1989–1993, der letzten und stärksten Besetzungswelle). In die dritte Besetzungswelle fällt auch ein entscheidender Paradigmenwechsel, der die HausbesetzerInnen-Szene nachhaltig verändert hat: nämlich der grundlegende Wandel der städtischen Räumungspraxis ab Ende 1989 und dem Stadtregierungswechsel von 1990, als die Freisinnige (FDP) und Christlichsoziale Mehrheit durch eine der Sozialdemokraten (SP) und Grüne abgelöst wurde.

Rechtliche Lage und Räumungspraxis vor 1990

Mit der Liberalisierung der Räumungspraxis der Polizei, die schon 1989, gegen Ende der bürgerlichen Stadtregierung eingeleitet wurde (vgl. Teil 3 dieser Serie, Ende der Law & Order-Politik aufgrund ihres Scheiterns) und unter der rot-grünen Stadtregierung, die seit 1990 existiert und in Neuauflagen bis heute (2010) fortgeführt wird, gefestigt und fortgeführt.

Hausbesetzung ist zwar nach wie vor nach Art. 186 des StGB als Hausfriedensbruch (auf Antrag des Hauseigentümers) strafbar, doch ab 1989 hat sich die polizeiliche Praxis, aufgrund der veränderten Vorgaben durch die Stadtregierung, der die Polizei unterstellt ist, grundlegend geändert. Zuvor wurde lediglich die Hegibach-Besetzung (Forchstraße 91/93, 29.8.1973–25.7.1974) für rund ein Jahr geduldet, in allen anderen Fällen wurde geräumt, sobald es die Polizei für nötig oder möglich hielt – in der Regel war dies binnen maximal zwei Wochen der Fall. Vereinzelt wurde auch in Zürich noch vor Anzeige durch den Eigentümer geräumt, häufig kam es zu Verhaftungen, das Vorgehen bei Räumungen war alles andere als sanft (weshalb laut Stahel ab 1982 die BesetzerInnen immer häufiger rechtzeitig vor Eintreffen der Polizei flüchteten), Häuser wurden teilweise von der Polizei selbst zur Unbewohnbarkeit "bearbeitet".

"Häuserkämpfe", wie aus anderen Städten dokumentiert, gab es in Zürich allerdings (fast) nie. Der aktivste Widerstand, der je bei einer Räumung in Zürich geleistet wurde, dürfte ebenfalls bei der Hegibach-Besetzung angewendet worden sein: Stahel berichtet von etwa zwei Dutzend BesetzerInnen und AktivistInnen, die sich auf dem Dach des Hauses verschanzten (und allesamt schließlich verhaftet wurden) und etwa 150 SympathisantInnen, die teils gewaltbereit mit Steinen sowie einem Brandsatz die Polizei bewarfen und versuchten, sie an ihrer Arbeit zu hindern. Bei allen anderen Räumungen kam es maximal zu Barrikadenbau und "Schein-Verteidigung", wie etwa bei der Räumung des besetzten Hauses an der Schmiede Wiedikon (Zurlindenstrasse, 1.11.1986–9.6.1987), wo sämtliche Fenster und Türen derart stark verbarrikadiert wurden, das schräge Dach mit Schmierseife glitschig gemacht wude, dass alle Versuche der Polizei, in das Gebäude zu gelangen (zB. Hochdruckwasserstrahl, Rammbock), vorerst scheiterten, sodass sich die Polizei schließlich mit Hilfe der Feuerwehr Zugang zum Dach verschaffte und von dort einen Eingang aufschweißte. Die BesetzerInnen, die zunächst noch anwesend waren und über die Polizei spotteten, verschwanden in der Zwischenzeit über einen unterirdischen Gang. Die Räumung dauerte dadurch etwa vier Stunden, statt üblicherweise (bei verbarrikadierten Häusern) maximal zwei Stunden.

Neubesetzungswelle und Überforderung der Polizei

Anfang 1989 erreichte das Level der Gewalttätigkeit bei Räumungen, sowohl seitens der BesetzerInnen als auch der Polizei, einen neuen Höchststand. Bei der Räumung von drei Häusern an der Zweierstrasse 47, 49 und 53 (6.4.–11.5.1989) kam es zu zwei Verletzten und einem Toten, da unmittelbar nach der polizeilichen Räumung die Abrissarbeiten begonnen wurden, ohne zuvor das Gelände fachgerecht abzusperren: Der Architekt wurde vom einstürzenden Haus getötet, eine Nachbarin wurde beim Entleeren ihres Briefkastens von einer einstürzenden Mauer getroffen. Ein Bewohner des Hauses, der sich aus Protest noch auf dem Dach befand, verletzte sich beim Sprung in ein Sprungtuch.

Bei der Räumung der Ankerstrasse 124 (Auszugsboykott, 18.3.–26.6.1989) wurde wiederum vonseiten der BesetzerInnen eine aufwändige Barrikade aus Stacheldrahtzaun und an eine komplexe Zündanlage angeschlossenen Rauch-/Knallkörpern errichtet, sodass die Polizei vor der Stürmung des Hauses erst den "wissenschaftlichen Forschungsdienst" zur Entschärfung anrücken lassen musste.

Paradigmen- und Stadtregierungswechsel ab 1989, 1990

Da Mitte des selben Jahres noch sieben andere Häuser besetzt waren, es nach jeder Räumung zu Demos kam und aufgrund einer Spitze in der Wohnungsnot (Leerstandsraten-Tief) auch so schon zu regelmäßigen Demos kam, kam es offenbar noch unter der konservativen, bürgerlichen Stadtregierung des Jahres 1989 zu einem Umdenken, das zwar nicht öffentlich breitgetreten wurde, sich aber in der Hausbesetzerszene rasch bemerkbar machte. Nicht zuletzt wird der Wohnungsnot-Bewegung, mit ihren regelmäßigen Protestveranstaltungen, Demos sowie den Hausbesetzungen, mit dafür verantwortlich gemacht, dass es bei den Wahlen von 1990 zu einem Stadtregierungswechsel kam. Die Wohnungsnot war mittlerweile ein breit bekannter Fakt, großes Thema bei Debatten und in den Medien, und die bürgerlich-konservative Wohnbaupolitik der vergangenen Jahre wurde vermehrt als gescheitert betrachtet.

Neue, liberalere Räumungspraxis und politische Vorgaben

Als 1990 die neue Stadtregierung ihr Amt antrat, wurde der bereits eingeleitete Wandel verankert. Ab nun sollte grundsätzlich kein Haus mehr geräumt werden, wenn nicht Bau- oder Abbruchbewilligungen, neue Mietverträge oder grobe Sicherheitsbedenken vorliegen. Da Eigentümer von besetzten Häusern gelegentlich versuchten, die Stadt zu täuschen (indem eine Renovation angekündigt, aber lediglich ein Abriss-Ansuchen eingereicht wurde), achtete man nun noch genauer darauf, ob vollständige Bau- oder Abbruchbewilligungen vorliegen, da die neue Stadtregierung gewillt war, Spekulanten nicht uneingeschränkt hantieren zu lassen.

Ein wichtiger Aspekt bei der Frage, ob geräumt werden kann oder nicht, ist indirekt auch das Geld. Um zu einer Abriss-Genehmigung zu kommen, muss man ein Neubauprojekt bewilligen lassen (in Zürich dürfen keine Wohnhäuser abgerissen werden, ohne, dass auf dem selben Grundstück, ein Neubau bewilligt ist). Und um ein Neubauprojekt bewilligen zu lassen, müssen umfangreiche Pläne für den Bau vorgelegt werden, die sämtlichen Anforderungen und Auflagen der Stadt gerecht werden. Dies kostet, nach Auskunft eines Architekten, mindestens mehrere zehntausend Franken (je nach Größe des Projekts), durchschnittlich etwa 30.000 bis 60.000 Franken (= ca. 23.000 bis 45.000 €). Sofern man also in Erfahrung bringen kann, ob ein Grundstückseigentümer (z.B. ein Unternehmen) Pleite ist, was durch Nachfragen oder Nachforschungen gelegentlich möglich ist, kann man die Erfolgsaussichten bzw. mögliche Dauer einer Besetzung schon von Anfang an einschätzen.

Freilich ist all dies rechtlich nicht verankert, sondern lediglich eine Praxis, um den Aufwand für die Behörden nicht unnötig für die Räumung ohnehin leerstehender Häuser, für die der Eigentümer keine bewilligten Pläne vorweisen kann, zu erhöhen: Mit der Folge eines ruhigeren politischen Klimas in der Stadt, einer friedlichen Ko-Existenz und dadurch auch einer zunehmenden Ent-Politiserung der HausbesetzerInnen, was durchaus auch im Interesse der Stadt sein kann.

Und letztlich konnte auch die neue Räumungspraxis und eine rot-grüne Stadtregierung die Räumung der Wohlgroth, der bis zu diesem Zeitpunkt in fast jeder Hinsicht größten Besetzung Zürichs (vor allem, was die Zahl der BewohnerInnen, Zahl der Gebäude und der darin befindlichen Einrichtungen sowie die Bekanntheit und Akzeptanz in der Bevölkerung betrifft), nicht verhindern, da der Eigentümer schlicht und einfach Baubewilligungen vorweisen konnte und sich von der Durchführung dieses Bauvorhabens (an einem attraktivem Grundstück neben den Gleisen nahe des Hauptbahnhofes) nicht abbringen lassen wollte.

Der Ernüchterung in der Szene nach dieser Räumung war natürlich groß. Nichtsdestotrotz existierte die HausbesetzerInnen-Bewegung nicht nur weiter, sondern etablierte sich regelrecht in der Kultur- und auch in der alternativen Konzert- und Partyszene als Fixpunkt, häufig als einziges unkommerzielles Angebot in einer der teuersten Städte der Welt. Dies war natürlich nur aufgrund der liberaleren Räumungspraxis möglich, die zwar manchen nicht weit genug geht (aber gleichzeitig vielen natürlich längst zu weit) und aus verschiedenen Perspektiven kritisierbar ist, aber letztlich doch die jahrelange Existenz von Hausbesetzungen möglich machte.

So wurde im November 1990 ein Haus in der Toblerstrasse, also in einem der teureren Wohngebiete Zürichs am Zürichberg, besetzt, das knapp neun Jahre existierte (bis 11. Mai 1999) und in diesem Zeitraum ein Fixpunkt einer mehr oder weniger alternativen Szene wurde. Doch die Toblerstrasse war erst der Anfang: Nach 1990 folgten noch viele Häuser, die über mehrere Jahre Bestand hatten. Doch dazu in einem der nächsten Teile dieser Serie...


Quelle: Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Paranoia City Verlag, Zürich 2005, S. 349-358; + eigene Recherchen

Montag, 30. August 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 3: Hausbesetzungsbewegung 1970 bis 1993

Die ersten Hausbesetzungen in Zürich fanden laut Thomas Stahel (Wo-Wo-Wonige – Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968) 1970 statt. Hausbesetzungen waren bis Mitte der 80er-Jahre meist Ausdruck eines Protests am unmittelbaren Ort des Geschehens. So waren vorherrschende Besetzungsmotive:
1) Wohnraumverlust: Abriss des Hauses bzw. Wohnungs-Kündigung (Mieterkampf, Auszugsboykott, teilweise politisiert mit Unterstützung aus der Linken Szene)
2) Bauprojekt: Besetzung von zum Abbruch vorgesehenen Häusern zwecks eines Straßenausbaus oder einem anderen Großprojekt (z.B.: Milchbuck-Tunnel, Straßen-Ypsilon, Tor zu Aussersihl, Rote Fabrik usw.)

Erst ab Mitte der 80er entwickelte sich eine eigenständige Hausbesetzerbewegung (-szene), die (außerhalb bestehender linker oder sonstiger politischer Netzwerke) ihre eigenen Netzwerke spann ("Netz" 1986–1987, "Infoladen", mit Unterbrechungen seit 1987, "Häuserrat" bzw. "Rat der BesetzerInnen" 1990–1993 u.a.). Diese HausbesetzerInnen-Bewegung ist inhaltlich praktisch ident mit jener der Gegenwart: Es geht um autonome, selbstverwaltete Freiräume zum Wohnen, Arbeiten und/oder für kulturelle Nutzung. Seit März 1989 gab es keinen Tag mehr, an dem in Zürich nicht mindestens ein Haus besetzt war! (Stahel, S. 329) Zeitgleich endete auch die bis dahin vorherrschend Null-Toleranz-Politik der Stadt. Mit der erneuten Zuspitzung der Wohnungsnot um 1990 gelang es der Polizei schlicht nicht mehr, mit den Räumungen nachzukommen. Als 1990 eine rot-grüne Stadtregierung gewählt wurde, begann eine neue Ära der Hausbesetzergeschichte: Kein Haus sollte mehr geräumt werden, solang ein (Um-/Neu-)Bau- oder Abrisstermin nicht unmittelbar bevorsteht.

All das ist Gegenstand des dritten Teils meiner Serie über Zürichs HausbesetzerInnen-Bewegung von damals bis heute. Hier geht es um die Zeit nach der 68er-Bewegung bis zur Zeit nach der dritten von (angeblich nur) drei Hausbesetzungswellen in Zürich, also von ca. 1973 bis 1993.

Die 70er-Jahre - eine Phase zwischen Globus- (1968) und Opernhauskrawall (1980)

Nachdem sich "die Szene" Anfang der 70er-Jahre, nach ersten Erfolgen (Paradigmenwechsel in Teilen der Gesellschaft, auch in der städtischen (Wohn-)Baupolitik, nach den Ereignissen von 1968 und in den Jahren danach), in verschiedene Strömungen aufspaltete, spitzte sich die Lage Ende der 70er-Jahre wieder zu: Alternative und Autonome prallten wieder auf Autoritäten und Polizei. Anlass war, dass das städtische Jugendzentrum nicht einmal zwei Jahre Bestand hatte (wurde im Winter 79/80 geräumt) und dass mit der Schließung des "Polyfoyers" der letzte nicht-kommerzielle Raum für die Jugend in Zürich geschlossen wurde, während gleichzeitig hohe Subventionen für Theater und Opernhaus beschlossen wurde.

Gelegentlich kam es nun zu "Konzertstürmungen" - man verschaffte sich illegal und organisiert Zutritt zu (teuren) Konzerten um gegen das Fehlen von unkommerziellen Angeboten für Jugendliche zu protestieren. Die Spitze der neuen Protestwelle wurde am 30. Mai 1980 erreicht, als es nach einer von der "Aktionsgruppe Rote Fabrik" organisierten Demo vor dem Opernhaus (um auf die Volksabstimmung zur Errichtung eines alternativen Kulturzentrums in der ehemaligen, gleichnamigen, seit 1973 temporär für kulturelle Zwecke genutzte Fabrik aufmerksam zu machen) zur heftigsten Straßenschlacht mit der Polizei seit 1968 kam.

Zürich wird Weltstadt - Politik der Integration und Förderung der Subkultur

Erst gegen Mitte der 80er-Jahre änderte die Stadt auch ihre Politik im Umgang mit "Jugendunruhen" und Forderungen von subkulturellen Gruppen. Das Image der Bankenmetropole Zürich war bereits in Mitleidenschaft gezogen worden, die Stadt wollte nicht noch öfter mit Jugendkrawallen und Straßenschlachten in die Schlagzeilen geraten, man begann eine "Politik der Integration" mit Förderungen für subkulturelle Aktivitäten, um die Lage zu befrieden. Dies führte freilich dazu, dass Zürich heute überhaupt jene multikulturelle Weltstadt ist, als die es sich gerne selbst darstellt. Selbst die führenden Tageszeitungen bestätigen diesen Eindruck. Der Tages-Anzeiger schrieb zum "20-Jahr-Jubiläum" der Opernhauskrawalle: "Ohne 'Bewegung' wäre die Stadt nicht so kulturfreundlich, liberal und lebenslustig geworden, wie sie es heute ist" (30.5.2000). Die "Bewegung" der 68er und 80er-Jahre, die im Sinne des Philosophen Henri Lefebvre "die ganze Stadt" ("das Recht auf die Stadt"/"le droit à la ville") als "offensive Strategie" und autonome Räume als "Inseln" in der Stadt als defensive Strategie verfolgte, sah sich nun mit dem "Gewinn" dieser autonomen Inseln natürlich auch dem "Problem" gegenübergestellt, auf diese Inseln abgedrängt zu werden.

Gleichzeitig befand sich die "Bankenwelt" immer noch in Expansion. Der Anteil der Erwerbstätigen im Zürcher Bankensektor erhöhte sich zwischen 1965 und 1991 von 9,6 auf 26,1 % - mit der Folge, dass der Druck auf die Innenstadtnahen Wohnquartiere weiterhin zunahm, die "Stadtflucht" (als Folge steigender Mieten und Raumknappheit) weiterhin akut blieb. Mit diesem Druck auf Wohn- (und Lebensraum) blieben auch weiterhin, neben den vereinzelten subkulturellen, autonomen Freiräumen, genügend Anlässe bestehen, um gegen die Stadt und (deren) von Wirtschaftsinteressen gesteuerte Politik zu protestieren, den Wohn- und Lebensraum Stadt zu verteidigen.

Hausbesetzungen: Frühe Phase: die 70er

Ausgehend von den Forderungen nach einem Autonomen Jugendzentrum, dem Globus-Krawall und anderen Umbrüchen des Jahres 1968 entwickelte sich in Zürich die Hausbesetzer(Innen)-Szene.

Die meisten "Besetzungen" der 70er-Jahre waren noch Mieterkämpfe - also Mieter, deren Mietvertrag gekündigt wurde, die sich aber weigerten, auszuziehen. In dieser Phase war der "Kampf" um Wohnraum auch noch stark von der Idee des Klassenkampfes und der Perspektive der Arbeiter geprägt. Daneben gibt es auch noch jene "Besetzer aus dem Untergrund" wie die "Lone Stars", heute "Hell's Angels", kriminelle Motorrad-Gangs, die in Abbruch-Häusern schlafen und oft weiterziehen. In einer Biografie über "Tino, der König des Untergrunds", wird davon erzählt, dass die "Wilden und Halbstarken" schon "Kommunarden und Hausbesetzer" waren, "bevor die Studenten den Begriff erfanden" (zitiert nach Stahel, S. 320). Für eine "gemeinsame Sache" einer Bewegung waren die Rocker aber nicht zu haben: Ganz im Gegenteil, ließen sie sich mitunter auch von Hausbesitzern, die ihre Mieter (zwecks Abbruch, Neubau, Spekulation etc.) loshaben wollten, in leeren Wohnräumen einquartieren, um die übrigen Bewohner und die Nachbarschaft einzuschüchtern. Abgesehen davon gab es wohl kaum Interesse von Seiten der "Bewegig" derartige Bündnisse einzugehen - aber als Hausbesetzer müssen sie nunmal erwähnt werden.

--> Venedigstraße (Tessinerplatz), 1. April – 14. April 1971

Als erste "politisch motivierte Hausbesetzung im grossen Stil" nennt Stahel die Besetzung von sieben Häusern am Tessinerplatz, an der Venedigstraße, am 1. April 1971. Hierbei ging es allerdings, eher im Geiste des "Mieterkampfes", um die Verhinderung des Gebäudeabrisses. Zu den "kämpfenden" Mietern gesellten sich allerdings zahlreiche Sympathisanten, die den Abwehrkampf gegen den Abriss in einen stadtpolitischen Kontext stellten: als Beispiel für die schwachen Rechte der MieterInnen und die Wohnraumzerstörung der Stadt (häufig zugunsten größerer Straßen, ein Schicksal, das auch für heute so populäre Rote Fabrik vorgesehen war, wären da nicht die Proteste gewesen). "Gebracht" in dem Sinn, dass der Abriss verhindert werden konnte, hat es letztlich, nach zwei Wochen Besetzung, nichts. Doch es wurde ein Weg des lautstarken Protests gegen diese Politik der Stadt eingeschlagen, der auf viel Unterstützung aus der Bevölkerung zählen konnte. Es entstanden zudem verschiedene Quartiergruppen, die weitere Protestaktionen dieser Art vorbereiteten und initiierten.

--> Forchstraße 91/93, 29. August 1973 – 25. Juli 1974

So kam es 1974 an der Forchstraße beim Hegibachplatz zur dauerhaftesten Besetzung der 70er-Jahre. Ziel war es, die lokale Bevölkerung in den Mieterkampf einzuführen und zu mobilisieren, sowie einen "Markstein" in der Geschichte des Mieterkampfes und der Jugendbewegung im Raum Zürich zu setzen. Interne Differenzen, Probleme des Zusammenarbeitens (es wohnten nur wenige in dem Haus, die meisten hatten eine Wohnung), schwächten die AktivistInnen jedoch, ein Stundenplan hatte die Anwesenheit von "Besetzern" zu gewährleisten. Im Laufe der Zeit lebten immer mehr "Freaks" (so wurden damals laut Stahel Personen ohne geregelten Tagesablauf, die häufig Drogen konsumieren, genannt) im Haus, es kam zu willkürlichen Sachbeschädigungen (im Alkohol- und/oder Drogenrausch) und "zu Hause" lebende AktivistInnen hatten immer weniger vor Ort zu sagen - entsprechend sank die Akzeptanz in der Nachbarschaft.

Neben diesen "Kinderkrankheiten" am Anfang der Hausbesetzerbewegung gab es, als es nach 11 Monaten zur Räumung kam, auch (aus heutiger Sicht erstaunlich?) starken Widerstand: 23 Personen verschanzten sich auf dem Dach, wurden natürlich verhaftet und vor Gericht zu vergleichsweise harten Haftstrafen von 28 Tagen bis zu sechs Monaten verurteilt (Delikte vermutlich Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Körperverletzung - Hausbesetzung an sich ist schließlich kein eigenes Delikt).

Die Ernüchterung nach 11 Monaten Besetzung war in der "linken Szene" groß, die Zersplitterung der verschiedenen beteiligten politischen Strömungen war zu groß, keine konnte die "Vorherrschaft" für sich beanspruchen, weswegen die ganze Sache auch keine bestimmte Richtung hatte.

Nach anderen erfolglosen Besetzungen, die nach üblicherweise ca. 2 Wochen geräumt wurden und häufig gegen den Hausabriss zwecks Straßenbauprojekten gerichtet war (Milchbucktunnel, Schnellstraßen-Ypsilon) nahm die Zahl der Besetzungen in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre stark ab, um ab 1979/1980 wieder zuzunehmen.

Die 80er-Bewegig: Zürichs Hausbesetzer professionalisieren sich

Thomas Stahel sieht die Entwicklung der Zürcher Hausbesetzungen von 1980 bis 2005 (alles vor 1980 muss wohl als prä-historische Hausbesetzerphase bezeichnet werden) in drei Wellen:
1) die 80er-"Bewegig" (1980 bis 1983)
2) die "Netz"-Zeit (1986 bis 1987)
3) die Zeit nach der Wohnungsnot-Bewegung (1989 bis 1993)

"Startschuss" für die 80er-Bewegig und ihre Hausbesetzungen war zweifellos der Kampf um die Rote Fabrik, der in der Straßenschlacht vom 30. Mai 1980 seinen Ausdruck und Ausgangspunkt fand.

Quasi "Vorbote" einer neuen, im heutigen Sinn "modernen" Hausbesetzerwelle, die das Schaffen eines selbstverwalteten, autonomen Kultur- und Wohnraumes zum Ziel hatte, war 1979 das Komitee für ä wohnliches Züri, das im Sommer 1979 gleich mehrmals ihr Glück versuchte:
– 16. Juni – 18. Juli 1979: Nachbarhäuser Stampfenbachstrasse 109, 111, Wasserwerkstrasse 14, Walter-Weg (-Steig) 3, 5
– 19. – 21. Juli 1979: Haus in der Zollstrasse
– 22. Juli – 8. August 1979: Kreuzbühlstrasse 16
– 8. Juli (Druckfehler? --> 8. August?) 1979: Hufgasse 7

Geprägt von Hausbesetzungen in Berlin und Amsterdam, über die in Szene-Blättern berichtet wurde, begann sich auch die Bewegung rund um die Rote Fabrik (sowie darüber hinaus) zu organisieren und rief ab März 1981 zu regelmäßigen Vollversammlungen im Volkshaus und ab 1. April 1981 zu einer Reihe von Hausbesetzungen auf: die erste große "Enteignungs"-Offensive, Auftakt der ersten großen Besetzungs-Welle laut Stahel. Binnen zwei Monaten ab dem 1. April 1981 wurden gleich viele Hausbesetzungen gezählt wie im gesamten Zeitraum 1971 bis 1978.

Neu ist auch, dass zahlreiche stille Besetzungen stattgefunden haben bzw. erstmals überliefert sind: So etwa die Häuser Hellmutstrasse 5, 7, 9 und 15 ("Hellmi", 10. bis 31. November 1979, ging in einem legalen Wohnprojekt auf), Sihlamtstrasse 15-17 (April 1980, ging ebenfalls in legalem Projekt auf), Ecke Agnes-/Zypressenstrasse (irgendwann 1980) u.a.

Das Klima war, aufgeheizt durch die Protestaktionen der Jugend mit dem bekannten Höhepunkt der Opernhauskrawalle, repressiv, die Polizei versuchte stets rasch, Hausbesetzungen zu beenden – doch die BesetzerInnen ließen sich dadurch vorerst nicht einschüchtern, sie rechneten ohnehin damit. Die immer regelmäßigeren Polizeieinsätze zu Hausräumungen machten auch die Medien aufmerksamer gegenüber dieser Entwicklung, die "in der öffentlichen Wahrnehmung immer deutlicher zu Manifestationen gegen die städtische Wohnpolitik" wurden, so Stahel.

Gleichzeitig kamen auch Zweifel innerhalb der Szene auf, da Hausbesetzungen als politisches Signal zwar gemeinhin als sinnvoll erachtet wurden, doch wenn die Politik diese Signale nicht hören will und die Polizei rücksichtslos zur Bekämpfung eingesetzt wird, führt dies, nach Ansicht der Skeptiker, auch zu keiner Lösung oder Erfolgen. Selbst, wenn manche Häuser mehrmals hintereinander, jeweils nach einer Räumung, (wieder)besetzt wurden, änderte sich nichts an dem konsequenten Vorgehen der Stadt und ihrer Polizei. So "versandete" die erste große Hausbesetzerwelle zu Beginn der 80er-Jahre bald und endete in einer spektakulären Scheinbesetzungsaktion von 18 Häusern am 1. Mai 1983.

Von da an bis 1986 sorgte lediglich die Besetzung der Badenerstraße 2 am Stauffacher, einem zentralen Platz in der Stadt, vom 9. bis 12. Januar 1984, für (mediales, öffentliches) Aufsehen. Das Haus befindet sich direkt am Fluss Sihl und trennt die "City" (das überwiegend kommerziell und für Geschäftsflächen genutzte Innenstadtgebiet, das aufgrund von Banken- und Immobilieninteressen einen ständigen Drang nach Ausdehnung verspürt) von Aussersihl und wird daher auch als Tor zu Aussersihl bezeichnet. Bei dieser an und für sich kurzen Besetzung konnte eine große Mobilisierung der Bevölkerung erreicht werden, was auf die (gerade beschriebene) "strategische Lage" der Liegenschaft zurückgeführt wird. Es gab zahlreiche Solidarisierungsbekundungen, Medien und Stadtparlament beschäftigten sich mit dem "Fall". Darüber hinaus gab es verschiedene Quartiergruppen, die sich mit der Baupolitik (=Abriss alter Häuser, verdichtete Neubauten) am "Tor zu Aussersihl" beschäftigte.

Zweite Hausbesetzungswelle: Vom "Teil" der Bewegung zur eigenständigen Bewegung

Stahel nennt jene Besetzungswelle, die ab 1986 Zürich "heimsuchte", als eigentliche Geburtsstunde einer eigenständigen Hausbesetzerbewegung. Bis dahin waren Hausbesetzungen lediglich Teil einer gesamtheitlicheren Protestkultur – sei es gegen Straßenprojekte, Abriss- und Neubauprojekte oder als Begleiterscheinung des Klassen- oder Mieterkampfs sowie von Demonstrationen für autonome Jugend- und Kulturzentren.

Mit dem "Netz" verfügte diese Welle über eine Art "Dachverband", ein Sammelbecken der Hausbesetzer, das sich für kollektiven Wohnraum stark machte. Das "Netz" diente der Vernetzung, der gegenseitigen Hilfe, dem Erfahrungsaustausch, Aufzeigen politischer und kapitalistischer Zusammenhänge usw. Das Netz sei als Teil einer defensiven Hausbesetzerstrategie zu sehen, so Stahel, da sie sich der Verteidigung von besetzten Häusern verschrieb und offensive Ansätze, wie die Mobilisierung der Bevölkerung (aufgrund der Erfahrungen früherer Besetzungen) hintanstellte. Verankert war das Netz vor allem in den unter Auszugsboykott stehenden Häusern an der Schmiede Wiedikon (Zurlindenstrasse, 1. November 1986 bis 9. Juni 1987), Höschgasse 72–78 und in der Wohngemeinschaft Dreieck (ein kleines, dreieckiges Grundstück mit mehreren Häusern, das heute noch, legal, als Wohnprojekt existiert). Nach der Räumung der unter Auszugsboykott stehenden Häuser verlor das Netz an Bedeutung. Ihr Ende kam, nachdem sich rund um die Besetzung der "Annaburg", einem leerstehenden Gasthaus am beliebten Ausflugsziel Uetliberg, das acht Tage besetzt wurde und zu einem "autonomen Ausflugsziel" hätte werden sollen, ein interner (lange schwelender, nie ausdiskutierter) Konflikt entzündete, der die Gruppe spaltete und auflöste. Am Abend vor der Räumung gab es eine Vollversammlung mit etwa 100 Teilnehmenden, bei der es nicht darum ging, "einander zuzuhören", sondern jeder bloß zu Wort kommen wollte (so wird ein Teilnehmer in der Szene-Zeitschrift Machbar am 28.7.1989 zitiert). Vor allem Frauen fühlten sich bei diesem "schlechten Diskussionsklima" regelmäßig von sich selbst behauptenden Männern übergangen.

Zu Silvester 1987 war kein einziges Haus in Zürich mehr besetzt. Einziges Überbleibsel dieser "zweiten Welle" ist der Infoladen für Häuserkampf, der im Haus an der Schmiede Wiedikon gegründet wurde und ab April 1988 auf dem Kanzlei-Areal wieder aufnahm. Nach der Schließung des Kanzleizentrums 1991 wurde der Infoladen, respektive das "Häuserkampf-Archiv", privat weitergeführt und erst 2001, im Rahmen der Besetzungs-Aktion Egocity (Badenerstraße 97), wieder öffentlich zugänglich gemacht. Anschließend wurde daraus der Infoladen Kasama, der heute noch existiert und einen wichtigen Treffpunkt und Informationsdrehscheibe in der Szene darstellt.

Dritte Welle: Wohnungsnotbewegung

1988 wurde ein Haus besetzt, im Herbst des selben Jahres sammelte sich wieder eine Szene. Die nach der Auflösung des Netzes entstandene Informations- und Diskurs-Lücke wurde im Herbst 1988 durch die stadtpolitischen Aktionswochen Città Frontale des Ssenter for Applied Urbanism (SAU) vorübergehend geschlossen. SAU war ein Netzwerk von Geographiestudenten, die sich der unmittelbaren Erforschung der in Zürich stattfindenden urbanen Entwicklungen und den Widerständen dagegen verschrieb. Die Aktionswoche fand in der Roten Fabrik statt und zog zahlreiche Interessierte aus und von außerhalb der (ehemaligen) Bewegung, der Szene, an.

Die Besetzungen konzentrierten sich nun verstärkt auf die Kreise 4 und 5, nachdem zuvor keine Konzentrierung auf einen bestimmten Stadtteil festzustellen war.

Zentraler Anfangspunkt der neuen, und laut Stahel stärksten, Besetzungs-Welle war das Haus Köchlistrasse 22, das am 18. März 1989 besetzt wurde. Das Haus entwickelte sich rasch zu einem offenen Treffpunkt und Wohnort für unterschiedlichste Personen, und als es nach 20 Tagen geräumt wurde, waren bereits zwei weitere Häuser "enteignet" (besetzt) und drei im Auszugsboykott. Seit dieser Besetzung bis zum Erscheinen von Stahels Buch, 2005, gab es keinen einzigen Tag mehr, an dem in Zürich nicht zumindest ein Haus besetzt war (!).

Die Flut der Besetzungen ließ dieses Mal nicht mehr nach. Stahel führt dies darauf zurück, da die Wohnungsnot größer als je zuvor war (vgl. Teil 1 dieser Serie) und dass immer mehr Besetzer aus Schichten kommen, die nichts mehr zu verlieren haben und daher Häuser besetzen, weil sie schlicht nicht anders können, egal, wie rasch diese wieder geräumt werden. Die bis dahin geltende "Null-Toleranz-Politik" gegenüber HausbesetzerInnen war nicht mehr haltbar. Ein "sanfter" Wandel der städtischen Politik setzte zwangsläufig ein.

Dieser Wandel wird von Stahel am Fall der Besetzung der Limmatstrasse 215 festgemacht. Dieses Haus war nicht nur ungewöhnlich lange 15 Monate besetzt, sondern die Stadt suchte auch das Gespräch mit den Besetzern. Gemeinsam mit dem Besitzer der Liegenschaft wurde über mögliche Lösungen diskutiert: die Stadt war kompromissbereit, der Eigentümer nicht.

Mit dem Häuserrat entstand im April 1989 ein neues Netzwerk zwischen von Räumung bedrohten Häusern, das inhaltlich ähnlich wie das "Netz" ausgerichtet war. Dieser gab gelegentlich Pressekonferenen, ab 1990 unter dem Namen "Rat der BesetzerInnen", die letzte 1993.

Mit dem rot-grünen Wahlsieg von 1990 erfüllten sich einige Hoffnungen auf eine Entspannung der Situation. Räumungen wurden ab nun erst unmittelbar vor Baubeginn auf einer besetzten Liegenschaft durchgeführt. Die Besetzungen hielten nun länger, die Gesamtzahl der besetzten Häuser pro Jahr ging aufgrund seltenerer Übersiedlungsnotwendigkeit zurück, gleichzeitig erreichte die Zahl der gleichzeitig besetzten Häuser im Mai 1992 mit 16 besetzten Häusern ihren bis heute bis 2009 nicht mehr erreichten Höhepunkt. [Nachtrag 19.6.2012: Im Sommer 2009 berichtete der Tages-Anzeiger von 18 existierenden Hausbesetzungen, in einem Bericht des Stadtrats vom April 2010 wird die Zahl der Besetzungen mit 22 beziffert (vgl. "Zürichs Autonome Inseln", über.morgen #12/2010) und im Dezember 2011 schreibt der Tages-Anzeiger: "Laut Polizei sind in Zürich derzeit 30 Häuser besetzt" (vgl. Tages-Anzeiger, 15.12.2011: "Mit der Axt gegen Hausbesetzer:")]

Der Rückgang der Neu-Besetzungen ab Mitte 1991 wird also zum einen auf die tolerantere Räumungspraxis der Polizei unter einer rot-grünen Stadtregierung zurückgeführt, zum anderen auf eine leicht entschärfte Situation am Wohnungsmarkt und zuletzt auch darauf, dass sich Teile der radikalen Linken aus dem Häuserkampf zurückzogen, zum Teil auch aufgrund der Erfahrungen mit der Wohlgroth-Besetzung, die von Mai 1991 bis September 1993, bevölkerte zeitweise über 100 Bewohner, absorbierte einen Großteil der Energie der Hausbesetzer-Szene und wurde schließlich spektakulär geräumt (für mehr Infos --> Wikipedia).

Die Räumung der Wohlgroth wird von Stahel auch als Schlusspunkt der dritten, und nach seiner Ansicht letzten, Besetzungs-"Welle" angesehen. Über die Entwicklungen nach 1993 wird es in einem der nächsten Teile dieser Serie gehen.


- Quelle: Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Paranoia City Verlag, Zürich 2005, S. 66-70, 319-331
 
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