Samstag, 29. Januar 2011

No WKR 2011 - Die verbotene Demo

[letztes Update: 3.2.2011 (+Karte + Links)]
#nowkr 2011-Protest Map ;)
Einschub: Der Verlauf der Proteste an beiden Tagen (mit bebildertem Überblick über die verschiedenen Treffpunkte) aus Sicht der VeranstalterInnen wurde mittlerweile auf linksunten.indymedia.at veröffentlicht

Nach der für viele überraschenden Kesselung bei der NoWKR-Demo 2010 (bei der alle rund 500 DemonstrationsteilnehmerInnen angezeigt wurden sowie rund 170 unbeteiligte PassantInnen) setzte die Polizei dieses Mal auf ein totales Demonstrations- und Kundgebungsverbot - mit der absehbaren Folge einer Zersplitterung der Proteste auf die gesamte Innenstadt (besonders auf die Bezirke 6 bis 9, wie sich letztlich gezeigt hat). Abermals dürften rund 500 Personen an den dezentral, via SMS und Twitter koordinierten Proteszügen teilgenommen haben - Brennpunkte waren die Mariahilfer Straße und die Westbahnstraße, beide im siebten Bezirk, wo die Polizei zwei vom Gürtel hereinströmende Protestzüge gegen 19/20 Uhr einkesseln konnte.

Weitere Auseinandersetzungen bzw. Zusammenstöße mit der Poliei gab es im Laufe des Abends (bis etwa 23 Uhr wurden Aktivitäten gemeldet) beim Rathaus, vor dem Burgtheater, Heldentor (zeitweise großes Polizeiaufgebot, dann wieder fast gar keines), Volkstheater, Karlsplatz/TU (Foto), Kettenbrückengasse, Schwedenplatz, Stubentor und PAZ Rossauer Lände [Aufzählung mittlerweile mehr oder weniger vollständig; letztes Update: 30.1.2011] - die von der Polizei unter großem Personal- und Materialaufwand großräumig abgesperrten Bereiche um die Staatsoper, den Universitäts-Campus sowie die gesamte Innenstadt (die schon am Vorabend Schauplatz von Protesten war, siehe voriger Blogeintrag) wurden hingegen von den Demonstrierenden gemieden.

Außerdem gab es verschiedene Aktionen von Kleingruppen: so gelang es etwa, ein Transparent an der Hofburg anzubringen. Ein weiteres Transparent wurde am Gitter des Heldenplatzes angebracht, in Straßenbahnen und Bussen waren "Burschis platzen"-Luftballone zu sehen. Weiters wurde der erste Abend von einigen auch der Verschönerung revisionistischer Denkmale gewidmet.

Treffpunkte für die größten Demonstrationszüge (jeweils etwa 150 bis 200 Personen) waren zunächst die U6-Station Alser Straße, die U6-Station Burggasse sowie die Akademie der Bildenden Künste, wo der erste Protestzug schon um 17:40 Uhr (Quelle: SLP-Ticker) startete (und über die Mariahilfer Straße via Neubaugasse, Lerchenfelderstraße und dann zerstreut zur Alser Straße zog und sich teilweise mit den dort versammelten Personen traf).

Nach rund fünf bis sechs (!) Stunden an mehreren Dutzend Schauplätzen in den westlich der Innenstadt gelegenen Bezirken und Straßenzügen konnte die Polizei die Demonstrationen dann tatsächlich so weit zerstreuen und von einer Neu-Organisation abhalten (Twitter-Meldungen wurden zeitecht mitverfolgt), dass von einem durchschlagenden Erfolg des Polizeikonzeptes, das nach Medienberichten rund 1.200 [ursprünglich waren 900 angekündigt; nach Presse-Bericht am 30.1. korrigiert] BeamtInnen (mit Unterstützung aus den Bundesländern) miteinbezog, gesprochen werden muss. Oder anders gesagt:

"Sie [die Polizei] wollten mit möglichst viel Aufwand wenig erreichen und das ist ihnen gelungen"
(Zitat Wolfang Weber, WienTV.org
)

Ein Polizist meint sogar, "... die Demonstration is besser organisiert wie wir" (beim Eintreffen der Polizei in der Westbahnstraße/Gürtel auf diesem Video (bei 1:54) zu hören).

Radio Orange 94.0 berichtete den ganzen Abend über live von den Protesten. Den gesamten Mitschnitt gibts im Sendungsarchiv zum nachhören (Zusammenfassung).

BerichteViceland Today: WIEN DEMONSTRIERT ODER KESSELHÜPFEN FÜR FORTGESCHRITTENE
derstandard.at: Riesiges Polizei-Aufgebot, 500 Demonstranten, vier Festnahmen
scoop.at:
Wiener Linien, Polizei und der WKR-Ball 2011
fm4.orf.at: Katz und Maus
Die Presse: Wien: Die Demo-Metropole
SLP: NoWKR-Ticker des Demo-Abends der Sozialistischen Linkspartei
zurPolitik.com:
Die Vollkoffer im eigenen Auge
nochrichten.net: Unaufhaltsam, unberechenbar, vielfältig wie noch nie: Proteste gegen WKR-Ball 2011.

be24.at:
#nowkr - Wir sind Ägypten

Fotos
cg-politics: #nowkr2011 - demo(s) gegen ball des wiener korporationsring in der hofburg

Daniel Weber: Demonstration gegen den WKR-Ball 2011
... deutscher Berufsdemonstrant ;)

Videos und Videoberichte:
Wien Heute (ORF / keine Berichte in der Zeit im Bild!):

-> Bericht über Demonstration gegen WKR-Ball
WienTV.org:
-> NOWKR 2011 (ausführlicher Bericht mit Interviews des Polizeisprechers Hahslinger)
-> Daniel Hrncir:
NOWKR 2011 (wie es zum Kessel in der Westbahnstraße kam)
AG Doku:
-> 20110129 NoWKR (Eindrücke, Chronik-artig)
ichmachPolitik.at:
-> Spontane Demo gegen das Demonstrationsverbot zum WKR-Ball (am Vorabend, Innenstadt)
-> Erste Eindrücke der dezentralen Protestzüge, Neubaugasse Wien ... (Fahrrad-Kamera)
-> Nowkr-Demo: Dialog zwischen PassantInnen und 2 Polizisten vor dem Kessel in der Westbahnstrasse

-> Der brutalste Kessel bei der #nowkr Demo vor dem Burgtor ...
-> Einkesselung von ca. 200 Demonstranten in der Westbahnstrasse, ORF-Team wird (auch nicht) durchgelassen ...
diverse:
-> NO WKR Demo Impressionen 28/01/2011 (abgeriegelter Uni-Campus)
-> Superheld zum WKR-Ball ;)
-> OE24.AT // WKR Ball Demonstration 28.01.2011

Freitag, 28. Januar 2011

Wien: Spontandemo nach No-WKR-Demo-Verbot

Um 21 trafen sich gestern Abend (DO, 27.1.) nach Aufruf via SMS-Kette etwa 150 Personen um gegen das Verbot der Demonstration gegen den Ball des Wiener Korporationsring (WKR) zu protestieren. Die Demo wurde ja - wie im Vorjahr - kurzfristig verboten (der ursprünglich für 25.1. angesetzte Entscheidung über Genehmigung der Demonstration vom Praterstern zum Museumsquartier wurde ja auf Donnerstag verschoben). Dem voraus ging eine beispiellose Hetzkampagne durch die Raiffeisen-Zeitung "Kurier", die mit erfundenen Behauptungen von Gewaltaufrufen und zahlreichen verletzten PolizistInnen in de Vorjahren Panik vor einer angemeldeten Demonstration gegen das rechtsextreme Vernetzungstreffen WKR-Ball schürte ("Korporationsball: Anarchos wollen Revanche", 25.1., "Linker Tango um den rechten Walzer", 27.1. - beides Mal mit Bildern vom einzigen Ausbruchsversuch einiger DemonstrationsteilnehmerInnen aus dem unvermittelt angewendeten Polizeikessel 2010, bei dem 500 DemonstrantInnen und etwa 200 PassantInnen und AnrainerInnen bis zu 5 Stunden lang festgehalten wurden).

Unter Skandierung von Parolen wie "Wir demonstrieren, wo wir wollen, gegen Repressionen und Kontrollen" zog die Demonstration vom Stephansplatz via Graben - Am Hof - Freyung zum Schottentor, von dort über Universitätsstraße - Landesgerichtsstraße zur Lichtenfelsgasse - vorbei an der ÖVP-Zentrale, durch den Rathauspark zum Burgtheater und am Ring wieder zur Universität. Da die Polizei, die der Demonstration bis dahin in Unterzahl nachtrottete, mittlerweile die Auflösung der Versammlung "im Namen der europäischen Menschrechtskonvention" (!?) angekündigt hat, löste sich die Demonstration vorübergehend auf um sich wenig später neu zu formieren.

(Foto: Polizei trifft am Naschmarkt ein, twitpic, @dopiradikal)
Etwa gegen 22 Uhr versammelten sich erneut rund 70 Personen an der Staatsopernkreuzung, zog nach einer kurzen Straßenblockade, die nach etwa 10 Minuten von Polizeieinheiten bemerkt wurde, über die Operngasse zum Getreidemarkt. Als nach und nach Polizei sowie eine WEGA-Sektorstreife eintraf zerstreute sich die Demonstration über den Naschmarkt. Bis 23 Uhr dürften sich alle Gruppen aufgelöst haben.

Recht auf Versammlungsfreiheit wird wahrgenommen

Für heute, Freitag (28.1.2011), den Tag des WKR-Balls, wird aufgerufen, sich über Versammlungen auf www.nowkr.at oder No WKR 2011 auf Facebook zu informieren. Die ÖH hat zwar als Kompromiss mit der Polizei eine "Standkundgebung" im Votivpark anmelden können. Doch diese wird durch die Polizei wohl wie im vergangenen Jahr als Gefängniskessel betrachtet werden, aus dem sich nach Eintreten niemand mehr ohne Anzeige entfernen kann. Von einer Versammlung am Praterstern (wie wochenlang angekündigt) wird dringend abgeraten. Umso mehr wird all jenen, die sich das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht verbieten lassen wollen, die vorherige Information auf den genannten No-WKR-Seiten empfohlen! Auch eine Twitter-Suche unter dem Hashtag #nowkr ist für aktuelle Informationen empfehlenswert.

Das Antinationale Bündnis ruft für 17 Uhr zum Treffen beim Infopoint am Uni-Campus, Hof 2, auf - alle Infos dazu auf anbw.blogsport.eu.

Weitere Informationen zur Spontandemo:
- anbw.blogsport.eu: The Streets are ours!!! - Spontandemo
- nochrichten.net: Flammender Protest gegen Untersagung der Demonstration gegen Rechtsextremenball.
- cg-politics: spontandemo wegen verbotes der anti-wkr-ball-demo

- Video / WienTV.org: Spontane Demo gegen das Demonstrationsverbot zum WKR-Ball

Zum Demo-Verbot:
wien.orf.at: WKR-Ball: Standkundgebung statt Demo

Mittwoch, 19. Januar 2011

In Deckung gehen, die größte Menschenrechtsorganisation ist unterwegs!

In den letzten Tagen wurden mehrere Verhaftungen von nigerianischen Flüchtlingen, die teilweise seit 8 bis 10 Jahren in Österreich leben, bekannt. In einem Fall sprang ein Mann aus dem Fenster seiner Wohnung und verletzte sich schwer. Auch ein (weiterer) FC Sans Papiers-Spieler soll unter den Verhafteten sein. In einem anderen Fall wurde eine Frau, die von Menschenhändlern zur Prostitution gezwungen wurde, verhaftet, nachdem sie bei der Polizei eine Aussage gegen die Menschenhändler gemacht hatte. Die Polizei, befohlen von einer feigen und menschenverachtenden Politik, geht natürlich nicht gegen die Menschenhändler vor (diese sind ja gefährlich!) sondern gegen deren Opfer. Die Menschenhändler können also ungestört weiter machen, denn wer gegen sie aussagt wird von der österreichischen (!) Polizei (!) beseitigt (!). Dieses Vorgehen ist auch schon im Fall "abtrünniger" Tschetschenen bekannt, wo die tschetschenischen Auftraggeber von der österreichischen Polizei geschützt werden und politische Auftragsmorde folgenlos bleiben. Oder auf städtischer Ebene vom Bettelverbot, das sich angeblich gegen "organisiertes Betteln" wendet, aber in der Praxis nur gegen die Bettler selbst, nicht jedoch gegen etwaige Hintermänner angewendet wird.

"Menschenhandelsopfer, Brandanschlagsopfer, Fußballspieler und rund 30 mehr"

(Zitat: nochrichten.net)

Bei jenem Frontex-Abschiebeflug, der in der Nacht vom 19. auf 20. Jänner 2011 abgewickelt wird (vermutlich zwischen 0 und 1 Uhr) sollen dem Vernehmen nach insgesamt 15 (bis 20 oder 30) Personen abgeschoben werden. Ob ein Zusammenhang zu den Vorfällen im Wiener Tanzlokal "Congo" besteht, wo unter dem polizeiintern gebräuchlichen Schlagwort "Neger umhacken" mehrere afrikanisch-stämmige Personen beschimpft, schikaniert und unter fadenscheinigen Vorwürfen angezeigt wurden, besteht, ist nicht bekannt. Offenkundig ist aber das in letzter Zeit immer drastischere Vorgehen gegen Flüchtlinge mit dunkler Hautfarbe (von Populisten und Rechten pauschal als "Drogendealer" diffamiert) durch die Polizei (vgl. hierzu auch den kürzlich vor Gericht verhandelten Fall Mike Brennan).

Vor Gericht werden sich jene Beamte, die vor Ende des Verfahrens über humanitären Aufenthalt (beim MA 35 anhängig) vollendete Tatsachen geschaffen haben, jedoch nie verantworten müssen. Eine Verfahren zu "humanitärem Bleiberecht" hat keine aufschiebende Wirkung. Es ist zudem kein Recht, sondern wird nach freiem Ermessen der zuständigen (Weisungsgebundenen) Beamten gewährt oder auch nicht gewährt (oder das Verfahren wird überhaupt eingestellt, da die Polizei während des Verfahrens abschiebt).

kleine Demonstration - große Polizei

Am Vorabend des 19. Jänner wurde via Twitter und Facebook zu einer Demonstration um 17 Uhr vor dem Polizeianhaltezentrum (PAZ) Rossauer Lände aufgerufen. Etwa 50 Personen folgten dem Aufruf. Medienberichte, denen zufolge der Aufruf vom Verein Purplesheep stammt, sind nicht wahr und werden vom Verein auf Facebook dementiert. Die Kundgebung war nicht angemeldet und wurde nach wenigen Minuten eingekesselt und nach 1,5 Stunden Polizeikessel aufgelöst. Nachdem die versammelten Personen die Straße vor dem PAZ Rossauer Lände betraten wurde sofort die Auflösung und Räumung angekündigt bzw. angedroht. Die Menge setzte sich daraufhin (wie üblich) in Bewegung, die Polizei forderte Verstärkung an und stoppte die Demonstration auf Höhe Hörlgasse 14, Ecke Liechtensteinstraße. Die Personalien der DemonstrantInnen sowie unbeteiligter PassantInnen (auch die NEWS-Redakteurin Corinna Milborn befand sich darunter) wurden aufgenommen, Anzeigen wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und die Straßenverkehrsordnung drohen. Strafrahmen: Im Wiederholungsfall bis zu 700 €.

Gezählte 14 VW-Kleinbusse, 8 Streifenwagen und 1 (unbenötigter) Gefangenentransporter waren im Einsatz. Nach Auskunft anwesender Personen soll ein Beamte gesagt haben, dass es sich bei diesem überdimensionierten Einsatz um eine "Übung" für die No-WKR-Demonstration am 28. Jänner handeln soll.

Klotzen, nicht kleckern, heißt es, wenn es um Einsätze der Wiener Polizei gegen Men
schenrechtsaktivistInnen geht - ein Engagement, das man beim (kaum vorhandenen) Vorgehen gegen organisierte Kriminalität (und damit mein ich nicht TierschützerInnen, sondern Auftragsmorde, Korruption und rechtsextreme Brandanschläge) vermisst.







In der Tat sind solch überdimensionierte Einsätze selten, jedoch nicht ungewöhnlich (auch in der ersten Hälfte des Jahres 2010 wurde besonders massiv gegen Anti-Abschiebungs-Demonstrationen vorgegangen, ein Mal war sogar ein großer Polizeibus im Einsatz, die Demonstranten wurden von einer Hundertschaft von Polizisten ab dem Schwedenplatz durch die Innenstadt gejagt). Bekannt ist aber auch, dass die Polizei vor Großereignissen tatsächlich kleinere Ereignisse zum Anlass für hartes Durchgreifen heranzieht. So etwa im Vorfeld der EM 2008.

Rassistische Wortmeldungen von Polizisten

Mehrere rassistische Wortmeldungen von Polizisten wurden dokumentiert. Eine Passantin fragt, um was es bei der Demo geht. Antwort des Polizisten: "Das sind Menschen die nicht wollen das kriminelle Ausländer abgeschoben werden." Polizist zu einem Demonstranten: "Wegen a bor Nega gehts es demonstriern?" (Quelle)

Weitere Informationen (siehe auch Links im Fließtext)

- Daniel Weber: DEMO gegen die Abschiebung von mindestens 3 Asylwerbern nach Nigeria (Bericht mit Fotos und Videos)
- NEWS: Neuer Skandal um Abschiebung: Opfer von Frauenhandel droht in Nigeria der Tod
- No-Racism.net: Proteste gegen Sammelabschiebung am 20. Jänner 2011
- wirbelwind.noblogs.org: Demonstration gegen geplante Abschiebung nach Nigeria
- nochrichten.net: Menschenhandelsopfer, Brandanschlagsopfer, Fußballspieler und rund 30 mehr: Sammelabschiebung nach Nigeria in der Nacht auf 20. Jänner – Protestaktionen und Polizeikessel. (besonders ausführlich!)
- Grüne Wien / Klaus-Werner Lobo: Opfer von Menschenhandel darf nicht abgeschoben werden! (OTS-Aussendung)
- Martin Juen: Polizeikessel bei Demonstration gegen Abschiebung | 19.01.2011 (flickr-Fotoalbum)

Samstag, 15. Januar 2011

Medienfreiheit für Ungarn - kein Blick zurück - Demonstrationen vom 14. Jänner

Foto: Daniel Weber (CC by-nc-sa 2.0)
Am 1. Jänner 2011 trat Ungarn für ein halbes Jahr den EU-Rats-Vorsitz an. Am selben Tag trat ein neues Mediengesetz in Kraft, das zum einen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einer zentralen Lenkung unterwerfen soll, zum anderen das Redaktionsgeheimnis aller Medien aufhebt und Verstöße gegen sehr weit gefasste Vorgaben wie "politische Unausgewogenheit" oder Gefährdung der "nationalen Sicherheit" mit sehr hohen Geldstrafen (bis zu 200.000 Forint bzw. je nach Wechselkurs ~730.000 €, bei Online-Medien und Blogs bis zu 35.000 €) bedroht. Festgestellt werden solche Verstöße durch eine im August 2010 ins Leben gerufene nationale Medienbehörde (kurz: NMHH, siehe auch Wikipedia-Artikel), die zunächst nur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuständig war. Das Problem dabei, sofern die bisherigen Punkte nicht ohnehin schon Problem genug sind: Das Präsidium, das diese Behörde leitet, wurde ausschließlich durch die Regierungspartei Fidesz von Viktor Orbán ernannt. Die Präsidentin der Behörde, Annamária Szalai, wurde sogar auf 9 Jahre ernannt. Also über die nächsten zwei Wahlen hinaus.

Da das Mediengesetz per 2/3-Mehrheit, über welche die Fidesz seit den Wahlen letzten Jahres verfügt, in der Verfassung verankert wurde, kann an all den genannten Punkten auch nur mit 2/3-Mehrheit wieder etwas geändert werden. Dass dies so schnell bei einer anderen Partei als der Fidesz der Fall sein wird, ist unwahrscheinlich. Und auch die Fidesz selbst kann sich bei den nächsten Wahlen schon mit einer einfachen Mehrheit oder gar einer Koalition zufrieden geben: Die Kontrolle über die Medien wird sie dank parteitreuer Besetzung der Behörde selbst dann noch bis 2020 besitzen.

Großer Tatendrang der Behörde schon am ersten Tag

Dass die Behörde von ihren weit gefassten Rechten Gebrauch macht, zeigte sich bereits am 1. Jänner. Offenbar lange vorbereitet wurde an diesem Tag ein Verfahren gegen Tilós Radio, ein kleiner, ehemaliger Piratensender, "der in alternativen Kreisen Kultstatus genießt", eingeleitet. Vorgeblich deswegen, weil der Song des US-Rappers Ice-T gespielt wurde und dieser einen "jugendgefährdenden" Text enthält. Wenig später wurde ein Verfahren gegen RTL-Club, die ungarische Tochter des RTL-Konzerns, eingeleitet. Beide Fälle stammen aus dem Vorjahr, das Gesetz soll offensichtlich auch rückwirkend Gültigkeit haben. Und ein Journalist beim öffentlich-rechtlichen Radio wurde entlassen, nachdem er in seiner Sendung eine Schweigeminute wegen des Mediengesetzes abgehalten hat.

Völlig zurecht wird daher eine "Vorzensur" bei den betroffenen Medien selbst befürchtet. Um Strafen, die bei keinem Gericht oder einer anderen Stelle als der Medienbehörde selbst beeinsprucht werden können, zu vermeiden, werden sich viele Medien und JournalistInnen lieber selbst an der Nase nehmen.

Nachdem binnen weniger Tage heftige Kritik aus ganz Europa eintraf und EU-Kommissionspräsident Barroso bei einem Besuch in Budapest mahnende Worte ausgesprochen hat, ruderte Orban zuminest verbal zurück. Er kündigte an, Änderungen am Gesetz vorzunehmen, wenn die EU dies für nötig erachte. Nachsatz: Er gehe nicht davon aus, dass dies so sein wird. Das Problem dabei: Bevor die EU das Gesetz prüfen kann, muss es übersetzt werden. Die NMHH hat zwar ebenfalls eine englische Übersetzung auf ihre Webseite gestellt - diese ist jedoch unvollständig. So bleiben bisher nichts als Worte, denen noch keine Taten gefolgt sind. Einzig: Das Verfahren gegen Tilós Radio soll mittlerweile eingestellt worden sein.

Einheitliche Kommunikationslinie Ungarns

Seit mehreren Tagen herrscht nun Ruhe. Zumindest tauchen keine neuen Fälle mehr auf. Die ungarische Regierung hat diese Zeit offensichtlich dazu genutzt, eine einheitliche Kommunikationslinie einzuführen. So war in den letzten Tagen von Orbán, seinem Außenminister oder - wie heute in Wien - von ungarischen Botschaftern und Orbán-Anhängern nur folgendes zu hören:

1.) Ungarn sei Opfer einer Hetze von - wahlweise - Sozialisten/Kommunisten/Paul Lendvai/EU/hysterische Intellektuellen

2.) Jene Kritiker, die nicht in das in Punkt 1 ohnehin sehr breit gefasste Spektrum hineinpassen, haben das Gesetz schlicht nicht vollständig gelesen (was derzeit auch gar nicht möglich ist). Es enthalte nämlich gar keine bedenklichen Passagen, jedenfalls hätten Kritiker bisher nichts konkretes nennen können

Protest-Vernetzung und -Mobilisierung auf Facebook

Jedenfalls möchte sich Orban endlich als EU-Rats-Vorsitzender feiern lassen und die "ärgerliche" Debatte abdrehen. Dass dies nicht gelingt, ist nicht zuletzt einer aufmerksamen internationalen Presse zu verdanken, die wiederum vielfach erst durch Proteste in Ungarn selbst auf die Brisanz der Gesetze aufmerksam gemacht wurde. So wurde bereits im Dezember die ungarische Facebook-Seite Egymillióan a magyar sajtószabadságért ("Eine Million für die ungarische Pressefreiheit") gegründet, die für den 22. Dezember zur ersten Demo rief, die von 1.500 vorwiegend jungen Leuten besucht wurde. Von den selben Leuten wurde auch eine internationale Version der Seite gegründet [und zwischen 17. und 18. Jänner gelöscht, Anmk.], um die Facebook-Weltöffentlichkeit auf die bedenklichen Neuerungen aufmerksam zu machen.

Als am 1. Jänner das neue Mediengesetz inkraft trat und sofort aus fadenscheinigen Gründen ein Verfahren gegen das kleine Tilós Radio eröffnet wurde, startete ich eine deutschsprachige Protestseite: Medien- und Meinungsfreiheit für Ungarn - da sich durch die sofortige Anwendung des Gesetzes eine bedenkliche - und schnelle - Entwicklung abzeichnete, die rasche Reaktionen erfordert. Da mittlerweile in einigen europäischen Ländern bedenklich hohe Verflechtungen von Regierungschefs und Medienkonzernen bestehen - Berlusconi ist nur der Gipfel dieses Zustands - war nicht unbedingt von einem ent- und geschlossenen Vorgehen der EU zu rechnen. Jedenfalls sollte die kritische Öffentlichkeit - nennen wir sie mal Zivilgesellschaft - vorbereitet sein, wenn sie "gebraucht" wird.

Also begann ich - oder besser gesagt "wir" (ich gab im Grunde nur den Startschuss, den Rest erledigt "die Community" von selbst) - diese kritische Öffentlichkeit auf Facebook einzusammeln. Dank Uni- und Anti-Abschiebungs-Protesten bestehen ja mittlerweile schon ganz gut funktionierende Netzwerke/Plattformen zur Mobilisierung. Daraus resultierten längst auch immer dichter werdende persönliche Netzwerke der regelmäßig beteiligten Personen. All dies war die Basis für die neue deutschsprachige Protestseite. Womit auch die von Orbán-Anhängern dogmatisch vorgetragenen Behauptungen, es handle sich bei den AktivistInnen gegen das Mediengesetz (egal ob in Ungarn oder im Ausland) um "ferngesteuerte" Anhänger der ungarischen Sozialisten (oder wem auch immer; die Orban-Fans sind da flexibel) oder gar Marionetten der internationalen Banken und Konzerne (die von Ungarn ja kürzlich mit Sondersteuern belegt wurden), widerlegt sein sollten.

Freilich dauerte es keine paar Stunden, schon wurde auch die ungarische Community in Österreich/Wien auf die Seite aufmerksam. Freilich habe ich ja die neue Seite auch auf der ungarischen und internationalen Facebook-Seite verkündet. Alles andere erledigt sich wie gesagt "von selbst". It's the Community, great!

Schon am 2. Jänner zählte die Seite über 700 "gefällt mir" (oder im alten Duktus: "Fans"). An diesem Tag wurde auf der internationalen Version der ungarischen Protestseite die Demo in Budapest am 14. Jänner angekündigt - und gleichzeitig dazu aufgerufen, in allen europäischen Hauptstädten aus Solidarität ebenfalls Demos zu organisieren. Wie praktisch, dass es in Wien bereits eine entsprechende Seite gibt ;)

Also hab ich auf Facebook einige Kontakte angeschrieben, auf die Solidaritäts-Bitte aus Ungarn hingewiesen und gefragt, ob jemand mit Erfahrung eine Demo organisieren und anmelden würde. Am nächsten Tag fand ich eine Antwort von Sigi Maurer von der ÖH vor, die zwar skeptisch war, ob sich viele Leute zu solch einer Demo mobilisieren ließen, aber nach einer Diskussion der ÖH-Bundesvertretung kam ebendiese zur Übereinstimmung, eine Demo anmelden zu wollen. Jedenfalls sollten noch die Medienrechtsorganisationen, die JournalistInnen-Gewerkschaft und andere potenzielle Unterstützer der Demonstration möglichst mit ins Boot geholt werden. Der Rest der Geschichte ist mehr oder weniger bekannt.

Am Freitag, den 7. Jänner, gab es das OK für die öffentliche Ankündigung der Demonstration. Der Aufruftext war fertig und wurde auf der Facebook-Seite, die mittlerweile über 1.500 UnterstützerInnen zählte, veröffentlicht. Am Montag den 10. Jänner ging eine gemeinsame Presse-Aussendung der Organisatoren (zu diesem Zeitpunkt: ÖH, GPA-djp, Reporter ohne Grenzen, Österreichischer Journalistenclub, Presseclub Concordia, Radio Orange und Amnesty International) hinaus. In den Tagen danach schlossen sich noch weitere Organisationen dem Aufruf an, etwa das International Press Institute und der Österreichische Medienverband.

Bis zum 14. Jänner, dem Tag der Demo in Budapest, der auf Facebook schließlich rund 7.500 Leute ihr Kommen zugesagt haben, erreichte auch die deutschsprachige (Wiener) Protestseite fast 2.000 UnterstützerInnen (zum Vergleich: die ungarische zählte am 14.1. 71.000 "Fans", die internationale Version knapp 2.700), der Wiener Demo-Aufruf rund 470 Zusagen.

Demonstrationen
Foto: Daniel Weber (CC by-nc-sa 2.0)
Einen Tag vor der Demonstration wurde auf Facebook auch für Berlin eine Protestaktion angekündigt. Auf englisch, und mit dem Hinweis, dass es sich um keine angemeldete Aktion handelt, weshalb möglichst Blumen oder ähnliches vor der Botschaft niedergelegt werden sollten. Auch auf polnisch wurde eine Protestaktion angekündigt, vermutlich in Warschau. Näheres ist mir bisher allerdings nicht zu Ohren gekommen, auch keine Übersetzung. Dass in der ungarischen Stadt Pécs (zwei Fotos) demonstriert wird, war hingegen schon seit einigen Tagen bekannt und angekündigt.

In Budapest nahmen schließlich etwa 10.000, die Veranstalter sprechen gar von 15.000, Menschen teil. Eine sehr starke Demonstration, wenngleich der Pester Lloyd etwas relativiert: Der Kossuth-Platz vor dem Parlament wurde nicht gefüllt, der Altersschnitt war (im Gegensatz zur ersten Demo am 22. Dezember) überraschend hoch. Das Programm (Rede- und Musikbeiträge) sei relativ schnell durchgespielt worden, das ganze habe, so der Pester Lloyd, eher wie die Absolvierung eines Pflichtprogramms gewirkt. War es im Grunde ja auch.

In Wien versammelten sich etwa 200 bis 250 Personen vor der ungarischen Botschaft.
Auch hier gab es nur kurze, aber nicht weniger prägnante Redebeiträge. Die Stimmung war gut, das Publikum war sehr vielfältig gemischt. Jung und alt, ÖsterreicherInnen und Auslandsungarn bzw. Austro-Hungaren (falls es dieses Wort überhaupt gibt), Studierende, JournalistInnen, AktivistInnen der teilnehmenden Organisationen und auch eine kleine, aber sehr engagierte und auffällige (einige TeilnehmerInnen trugen Guy Fawkes-Masken, wie sie etwa von den durch die Wikileaks-Affäre bekannt gewordenen NetzaktivistInnen Anonymous getragen werden; es gab eine Piratenflagge sowie ein Freibeuter Sonderblatt der piratischen studentinnen und studenten) Fraktion der Pirat(inn)enpartei - die als einzige politische Gruppierung in Erscheinung trat, was man in Ungarn vermeiden wollte und eigentlich auch in Wien beherzigt wurde.

Aber als Partei, die sich als Kollektiv von NetzaktivistInnen entschieden gegen jede Form von Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit wendet, wodurch sie sich elementar von allen anderen politischen Parteien unterscheidet, halte ich ihre Teilnahme nicht nur für gerechtfertigt sondern auch für höchst erfreulich, erbaulich und lobenswert!

Im Anschluss wurde dem ungarischen Botschafter, der die meiste Zeit vor der Botschaft anwesend war, eine Petition für Medien- und Meinungsfreiheit von Amnesty International überreicht. Unter großem Medieninteresse, einem regelrechten Blitzlichtgewitter, wurden dem Botschafter schließlich mehrere Fragen zu seiner Position gestellt, die er ausführlich, aber pflichtgemäß beantwortete. Für die Menschen hinter den JournalistInnen war dieses Gespräch leider nicht zu hören. Wir warten auf entsprechende Videobeiträge, die wohl im Verlauf des heutigen Tages veröffentlicht werden, und die ich hier in der Linksammlung nachtragen werde.

Aus Pécs wurden übrigens etwa 200 DemonstrantInnen gemeldet, in Berlin sollen 35 Personen demonstriert haben (Quelle: pusztaranger.org). Aus anderen Städten ist (derzeit) nichts bekannt.


Weiterführende Links zu den Demonstrationen

Folgend ausgewählte Berichte kommerzieller Medien sowie eine möglichst umfangreiche Übersicht nicht-kommerzieller Beiträge:

Berichte:
- Martin Juen aus Budapest: Demonstration for free Speech & Press Freedom gegen das neue Mediengesetz | Ungarn
- digitaljournal.zib21.com: Ungarn: Puszta, Paprika, Pressezensur und Protest (eine Zusammenfassung der Ereignisse bis zum 14.1.)
- derstandard.at: Ungarisches Mediengesetz - Facebook-Generation macht mobil
- nochrichten.net: Gemeinsam in Budapest, Wien, Pécs und Berlin für Medienfreiheit in Ungarn
- neuwal.com: "Geben sie Gewissens- und Gedankenfreiheit, Herr Orbán" - Solidaritätskundgebung in Wien
- International Press Institute (IPI) / International Freedom of Expression Exchange (IFEX): Campaigns and Advocacy: IPI, RSF and Austrian Journalists' Union urge Hungarian government to withdraw new media legislation

Fotos
- Martin Juen aus Budapest (flickr-Album)
- Pécsi Napilap: Fotogalerie aus Pécs
- Daniel Weber (flickr-Album)
- AUGE/ug (flickr-Album)
- Daniel Hrncir (Facebook-Album)

Videos / Videoberichte:
- Daniel Hrncir: Aufzeichung des "offiziellen" Livestreams in zwei Teilen (wenig zu sehen, aber Redebeiträge gut zu verstehen)
- Daniel Weber: drei Handy-Livestream-Aufzeichnungen (auf bambuser.com in drei Teilen)
- wienTV.org --> folgt am Dienstag, 18.1.

Audio:
- Cultural Broadcasting Archive (CBA): doku demo: free media in hungary
- CBA: Die Wiener Kundgebung für Medienfreiheit in Ungarn vom 14. Jänner 2011
 
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