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Mittwoch, 6. Juni 2012

IE bleibt unbequem - Protestkultur der Marke "Internationale Entwicklung" in Wien


[folgendes Kommentar wurde im Mai 2012 für die Juni-Ausgabe der über.morgen verfasst, konnte dort jedoch aus Platzgründen nicht abgedruckt werden; hier nun in einer leicht überarbeiteten und erweiterten Fassung]

Für viele überraschend entwickelte sich der bereits lang andauernde Kampf der Studierenden derInternationalen Entwicklung (IE) zu einem „heißen Frühling“ an der Uni Wien – ein kleiner Rückblick: Am 13. März startet die IE mit einem fast schon zum leeren Ritual verkommenen „Rektoratsfrühstück“ in das Sommersemester. Mit 50 TeilnehmerInnen – bei rund 3.000 Studierenden – fiel die Beteiligung schwach aus. Zur Erinnerung: Sowohl das alte wie auch das neue Rektorat zeigen sich kompromisslos in ihrer Weigerung, das aufgrund seiner interdisziplinären und Machtstrukturen hinterfragenden Ausrichtung beliebte Studium vollständig aufrecht zu erhalten.
Foto: Im besetzten Rektorat
Beim nächsten „Rektoratsfrühstück“ am 19. April gelang der perfekte Überraschungsmoment, als Punkt 11 Uhr über 100 Protestierende in das Rektorat eindrangen. Als die Polizei eintraf, bildete sich im dortigen Prunksaal eine ineinander verschränkte Sitzblockade. Fest entschlossen ließen sich fast alle von der Polizei aus der Blockade reißen und hinaustragen. So dauerte die Rektoratsbesetzung über drei Stunden – so lange wie noch nie. Im Anschluss zog eine Spontandemo zum Campus, von wo aus rund 300 TeilnehmerInnen zur Audimax-Besetzung aufbrachen. Diese war nie als „Dauerbesetzung“ angedacht, dennoch ließ das hochnervöse Rektorat noch vor 22 Uhr die WEGA anrücken. Ohne die gesetzliche Abzugsfrist zu gewährleisten, hielt die Polizei alle Studierende 15 Minuten im Audimax eingeschlossen, bevor alle Personalien aufgenommen wurden. Hunderte Solidarische bejubelten die rausbegleiteten BesetzerInnen hinter dem Uni-Gebäude – vereinzelt flogen Bananenschalen Richtung abziehende WEGA-Beamte.


Foto: Polizei, so weit das Auge reicht - nach der Räumung von rund 500 protestierenden StudentInnen aus dem Gang vor der "geheimen" Senatssitzung ...
Am 26. April riefen ÖH, „Aktionsbündnis gegen Studiengebühren“ (ABS) und „Stop STEOP“ zum Protest gegen „autonome Studiengebühren“ auf – auch IE-Studierende beteiligten sich. Bis zu 500 kamen und blockierten den Senatssitzungssaal, sodass ein Ausweichquartier gefunden werden musste. Dann wurde es sehr laut in den Gängen der Universität und ein Teil ließ seine Wut an der Tür des Sitzungsbüros aus, die mit Klappleiter und Eisenstangen aufgebrochen werden sollte. Erst nach 20 Minuten gelang es der Polizei, in den Gang vorzudringen, es gab Tumulte, zunächst wurde die Polizei sogar ein Stück weit zurückgedrängt – schließlich belagerten über 100 PolizistInnen das Senatsbüro – also wurde der Ring blockiert.

Foto: Motorrad-Polizisten unterstützen überrannte Polizisten am Eingang des Wissenschaftsministeriums
Am 3. Mai wurde das Wissenschaftsministerium für etwa eine Stunde besetzt. Und auch an den wöchentlichen After-Protest-Partys der IE am Campus kam es zu Momenten von Selbstermächtigung und Solidarisierung. Mehrere Polizeieinsätze wegen zB. nächtlicher Graffitis oder angeblicher Ruhestörung wurden durch solidarisches Auftreten – völlig gewaltlos – abgewehrt – Anzeigen verhindert. 

Foto: Polizeieinsatz am Campus am 21. April gegen 1:30 Uhr
Der erste fand an der Party in der Nacht vom 20. auf 21. April statt - also unmittelbar nach den belastenden Räumungen der Rektorats- und Audimax-Besetzung des Vortages - entsprechend ausgelassen wurde gefeiert, Frust in Tanzen kanalisiert. Nachdem Securities Tagging-Stifte von Anwesenden klauten griffen einige zu Spraydosen und sprühten Parolen gegen Rektorat, Securities u.a. an diverse Wände. Daraufhin folgte ein Polizeieinsatz, der durch immer weitere Einheiten verstärkt wurde. Da keine Schuldigen für die Graffitis identifiziert werden konnten und die mittlerweile 8 PolizistInnen immer lauterem (aber friedlichen) Widerstand (z.B. "Haut ab"-Rufe) ausgesetzt waren, zogen sie unverrichteter Dinge ab.

Foto (Quelle): Anlass für nächtlichen Polizeigroßeinsatz am Campus am 20./21. April
Um 5:30 kehrten sie zurück - diesmal mit 2 WEGA-Beamten als Verstärkung - und ließen die Musik unverzüglich abstellen. Damit hätte der Einsatz auch schon wieder vorbei sein können, doch insbesondere ein besonders "motivierter" Polizist suchte die Konfrontation und versuchte in der Folge zwei Personen wegen Beamtenbeleidigung (oder etwas in der Art) anzuzeigen. Eine dieser Personen wurde offenbar nur wegen ihrer dunklen Hautfarbe von mehreren Polizisten provoziert - die noch etwa 80 Personen große "Party-Meute" wies jedoch alle Aggressionen der Polizei solidarisch und entschlossen zurück. Nach heftigen Diskussionen und beinahe tumultartigen Situationen, als der "besonders motivierte" Polizist von umstehenden eingekesselt wurde, zogen die PolizistInnen dann doch ohne Anzeigen ab.

Ein weiterer Polizeieinsatz (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erfolgte bei der IE-Party im Hof 2 zwei oder drei Wochen später: Diesmal wurde es versäumt, sich solidarisch gegen den Einsatz zu stellen, viele bemerkten die anrückende Polizei nicht einmal. Offenbar kamen nur zwei PolizistInnen als "Delegation" zur Musikanlage um deren Abschaltung zu veranlassen - eine sicher entfernte Ecke weiter warteten rund 10 PolizistInnen, darunter erneut WEGA-Beamte (zwei oder vier?) und einer mit Polizeihund, als Verstärkung. Erst nach etwa 30 Minuten ohne Musik, als das gesamte Dutzend Polizei sichtbar wurde und geschlossen abzog, setzte es noch einige Pfiffe und Buh-Rufe hinterher. Eine ähnliche Party wurde dann an anderer Stelle bis spätmorgens ohne weitere Polizeieinsätze fortgesetzt ;)

Zuletzt gab es eine (fast-)nackt-Intervention am Life Ball am 19. Mai (vgl. ichmachpolitik.at, Daniel Weber/flickr), ein Parkfest am 24. Mai sowie den Bildungsaktionstag am 5. Juni (vgl. derstandard.at, orf.at). All dies brachte in diesem Semester die „unverständliche“ Abschaffung des beliebten, international ausgerichteten Studiums in aller Munde – und damit jede Menge Solidarisierungspotenzial für künftige Proteste.

--> siehe auch: Indymedia-Feature "Uniproteste gegen Studiengebühren und für die IE!"

Sonntag, 18. September 2011

Krawallwochenende in Zürich - Stauffacher/Langstrasse, Helvetiaplatz, Central - 16./17. September 2011

Eine Woche nach den RTS-Krawallen am Bellevue vom 10. auf den 11. September (FMO berichtete) kommt es, wie nach dem Aufruf zur neuerlichen Straßenparty in Ketten-SMS seit letztem Sonntag zu befürchten war, erneut zu Krawallen. Dass es gleich drei werden würden, war jedoch nicht abzusehen.

"Polizei verhindert illegale Party am Central" titelt erfreut die Online-Ausgabe des Blick. Dass dafür vermutlich über 1.000 hochgerüstete PolizistInnen eingesetzt werden mussten, massenhaft Tränengas und Gummischrot verschossen wurde, dutzende Personen verletzt wurden, das Herz der Stadt, direkt vor einem der höchst frequentierten Bahnhöfe Europas, zwischen 23:45 und 3 Uhr früh eher einem Schlachtfeld glich, ist natürlich vernachlässigbar angesichts des herausragenden Erfolgs der vereinigten Schweizer Polizeikräfte gegen Jugendliche aus Zürich, die ihre Party nicht anmelden wollten.

Das vergangene Wochenende im Rückblick:

Freitag, 16.9. - Vorverlegte RTS am Helvetiaplatz, Krawalle am Stauffacher

Bereits am Vorabend des Samstags, 17. September, für den gegen 23:30 Uhr zur Party am Central aufgerufen war, versammelten sich rund 200-400 Leute (bei strömendem Regen) bei der Unterführung am Helvetiaplatz um mit eigener Anlage und DJs eine Alternative zum kommerziellen, ruionös teuren, Party-Treiben in den Clubs und Lokalen der Stadt anzubieten.

Die Polizei war nicht uninformiert, hielt sich aber vorerst im Hintergrund und ließ die Party, die ohnehin auf einem für den Verkehr gesperrten Platz stattfand, gewähren. Gegen Mitternacht setzte sich das mobile Soundsystem samt Anhängerschaft Richtung Stauffacher, wo ein Haus (zur Sauvage, also zum weiterfeiern) besetzt werden sollte, in Bewegung. Die Polizei versperrte jedoch den Platz. Als die Demonstrierenden über eine Seitenstraße ausweichen wollten, wurden sie umgehend mit Gummischrot und Tränengas eingedeckt, der Wasserwerfer wurde eingesetzt. Die Angegriffenen schleuderten Flaschen und andere Gegenstände zurück, zerstreute sich, formierte sich aber bald unweit der Langstrasse (Ausgehmeile und Zentrum zweier ehemaliger ArbeiterInnen-Bezirke, heute mehrheitlich von MigrantInnen bewohnt) wieder.

Tanzend zog die Menge nun in die Langstrasse, wo zahlreiche Schaulustige auf die Straßen strömten - die Polizei hielt sich zurück, zumal die Polizei in dem Quartier keinen guten Ruf genießt. Eine eigene Kampagne der Polizei kümmerte sich letztes Jahr darum, die Straßen "sauber" zu halten - gemeint sind willkürliche Kontrollen an Passanten "mit Migrationshintergrund", wie man "so schön" sagt.

Als die Demo schließlich in die Militärstrasse einbog um Richtung Kasernen-Areal (ehemalige Kaserne) zu ziehen, kam es vor dem dort gelegenen Polizeiposten zur finalen Auseinandersetzung: die Polizei setzte die üblichen Waffen ein, während DemonstrantInnen Müllcontainer und anderes Zeugs auf die Straßen warfen und anzündeten. Zwischen 2 und 3 Uhr waren die Krawalle beendet.

Samstag, 17.9. - Krawalle am Rande von Anti-Abtreibungs-Demo christlicher Fundis

Die Polizei verhinderte am Nachmittag unter großer Gewaltanwendung, dass die vom Revolutionären Bündnis Zürich getragene Gegendemo zur Anti-Abtreibungs-Demo durchbrechen konnte. Protestierende lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Alles weitere im Tages-Anzeiger, andere Infos liegen leider nicht vor.

Samstag, 17.9. - Reclaim the Streets am Central fällt Polizeiblockade zum Opfer - trotzdem Krawalle

Eigentlich hätten sich um 23:30 Uhr hunderte, wenn nicht tausende, Menschen zur RTS am Central treffen sollen. Doch zum einen regnete es erneut teils heftig, zum anderen glich das Zürcher Stadtzentrum einem Sperrgebiet. Das gesamte Areal zwischen Stampfenbachstrasse, Niederdorf, Hauptbahnhof und Bahnhofstrasse war von hunderten PolizistInnen besetzt - die sich jedoch zunächst in Seitenstrassen "versteckten". Laut Augenzeugen waren die in der Bahnhofshalle eingesetzten Cops eigens aus der französischsprachigen Schweiz zugezogen worden. Über die Zahl der eingesetzten Beamten gibt die Zürcher Polizei allerdings nie Auskunft.

Im Hauptbahnhof hatten sich bereits hunderte Menschen versammelt. Als sich mehrere Personen vermummten griff die Polizei das erste Mal ein: Festnahmen.

Die Menge zog zum Central und wurde durchgelassen. Doch bevor dort die Party losgehen konnte wurde binnen weniger Minuten ein Kessel erzeugt - die ersten Böller wurden Richtung Polizei geworfen und es passiert, was in so einem Fall in Zürich immer passiert: Gummischrot, Tränengas, Pfefferspray, Wasserwerfer ... Zusätzlich waren viele Polizisten in zivil eingesetzt, einige auch als sogenannte "Chaoten-Zivis", die aussehen sollen wie autonome Demonstranten (Rucksack, Kapuzenpulli etc.) und als "Greifer" Leute aus der Menge ziehen (ähnliche Bilder kennt man etwa aus Barcelona, wo im Umfeld der friedlichen Massenproteste am 15. Juni d.J. einige eingeschleuste Provokateure entlarvt und vertrieben wurden). Auch aus Zürich gibt es Videos von optisch möglichst angepassten Zivi-Cops, die Leute aus der Menge heraus verhaften, wie etwa regelmäßig am 1. Mai. Das treibt dann mitunter auch skurrile "Blüten", wie etwa dieses Video zeigt.

Mit Gewaltorgie zum Orgasmus? StaPo testet ihre neueste Lustinnovation.

Erneut kamen bei der Gewaltorgie der Polizei viele Unbeteiligte zum Handkuss: Diesmal wurde gleich das ganze Areal um den Hauptbahnhof in Trängengas gehüllt, im unterirdischen "Shopville", das unter dem Hauptbahnhof als Verbindung zur Bahnhofstrasse sowie als Shoppingcenter dient, hingen ebenfalls Schwaden von Tränengas. Oberirdisch wurden die rund 500 bis 700 Partywilligen zum Hauptbahnhof zurückgetrieben (sogar im Tages-Anzeiger steht im Bildtext: "Die Polizei trieb die Menge erst zum Central, anschliessend wieder zurück zum Hauptbahnhof."), in dessen Umgebung sich die Krawalle nun abspielten. Auch in der Altstadt, dem Niederdorf, soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Berichte darüber liegen (noch) keine vor.

Vom Hirschengraben über dem Central aus, das in einen Hang hineinreicht, wurde die Polizei mit Gegenständen und Baumaterial beworfen. Der Wasserwerfer, der sich nahe der den Hang abstützenden Mauer befand, wurde aus knapp 10 Metern Höhe mit kiloschweren Steinplatten beworfen - das Fahrzeug blieb unverletzt.

Der Weg zur Bahnhofstrasse - als teuerste Einkaufsstrasse der Schweiz auch das beliebteste Riot-Areal - wurde von einem Wasserwerfer versperrt. Also tobten sich einige an der Tram-Haltestelle Hauptbahnhof aus, zerstörten die Glasflächen, zündeten Zeitungsständer an, randalierten.

Weitere Angriffe der aufgebrachten Jugendlichen richteten sich gegen ein "ziviles" Polizeifahrzeug (die VW-Bus-Flotte der Zürcher Polizei, die für das Stadtbild prägend ist, ist in den Farbcodes blau, weiß und grau, sind - bis auf ein einziges, abnehmbares Blaulicht am Dach, von außen nicht als Polizeifahrzeuge zu erkennen), welches kurzerhand umgeschmissen wurde (Bilder davon finden sich auf 20min.ch und blick.ch, die freilich nicht von einem Polizeifahrzeug schreiben; nur der Tages-Anzeiger erkennt das Polizeifahrzeug, wie die Bildbeschreibung verrät).

Laut Tages-Anzeiger dauerten die Krawalle bis zumindest drei Uhr früh an, auch danach soll es noch vereinzelt Zwischenfälle gegeben haben. Dass der Versuch, die erschienene Menschenmenge in "Gaffer" und "Chaoten" zu spalten, nicht besonders hilfreich ist, da der Übergang mitunter ein fließender ist, zeigt eine Bemerkung im Tages-Anzeiger-Artikel: "Die Unruhestifter dürften die gleichen gewesen sein wie vergangene Woche, waren jedoch überraschend zahlreich. Die Gaffer glichen weniger den jungen Partygängern von letzter Woche als jenem Publikum, das man normalerweise am 1. Mai antrifft."

Gebt der Zürcher Polizei ein Gummi-MG!

Besonders hässliche Szenen soll es zwischen Hauptbahnhof, Limmatufer und Platzspitz gegeben haben, wo gegen Ende der Krawalle noch ein beliebig wirkender Kessel aufgezogen wurde und die darin gefangenen Menschen mit heftigen Salven aus Gummischrot in die Enge getrieben wurden - laut Augenzeugen waren kaum "Randalierer" oder "Chaoten" darunter, sondern "Gaffer" (Schaulustige) und Nachtschwärmer, die nicht wussten, wie ihnen geschah (Bild 14 in der Tages-Anzeiger Fotoreihe). Mögliches Motiv: Nach nur zwei (!) Verhaftungen am letzten Samstag sucht die Polizei nun (wie schon öfter in der Vergangenheit) durch willkürliche Verhaftungen dem Erfolgsdruck der Opposition und der gesamten Presse gerecht zu werden. Dass dabei jedes Mal dutzende, wenn nicht Hunderte, Zivilisten auf verschiedene Weise direkt mit Polizeigewalt konfrontiert werden, was im besten Fall von vertränten Augen bis - im schlechtesten Fall - gebrochener Nase durch Gummischrot reicht, scheint niemanden zu stören.

öffentliche Meinung - who cares?

Von Verletzten ist wie fast immer in den Medien nichts zu lesen - es müssen einige Dutzend gewesen sein an diesem Wochenende, viele mit blutverschmierten Gesichtern wegen des Gummischrots. Aber auch das ist Teil des perversen Spiels von Polizei, Politik und Medien, das in Zürich schon in den 80er-Jahren gespielt wurde und offenbar auch im Internetzeitalter noch erstaunlich und unwidersprochen gut funktioniert. Die Polizei schießt lieber aus der Distanz, die Leute laufen davon, die Medien schreiben die Presseaussendungen der Polizei ab, statt sich in Krankenhäusern nach den tatsächlichen Verletztenzahlen zu erkundigen (sie würden wohl staunen). Die (rotgrüne) Stadtregierung gibt sich besorgt über Gerüchte von Polizeigewalt, was von der rechten Opposition umso stärker kritisiert wird, da die Polizei selbst das größte Opfer sei und dringen mehr Geld und Personal benötige. Die so jedes Mal aufs neue für dumm verkaufte Öffentlichkeit weiß auch nicht mehr was sie glauben soll - dabei haben sie ohnehin immer nur die selbe Lüge erklärt bekommen. Weder auf Indymedia noch auf Twitter oder in eigenen Blogs bzw. Videoplattformen macht die linke Szene auf derartige Missstände aufmerksam. Hier klafft ein großes Loch, das beispielsweise in Wien (wohl insbesondere seit den Massenprotesten gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000, bei denen Mailverteiler eine sehr wichtige Rolle gespielt und somit wohl das Internetzeitalter in der "Zivilgesellschaft" miteingeleitet haben) durch autonome Blogs und Portale wie WienTV.org, nochrichten.net, ichmachpolitik.at, no-racism.net, Indymedia sowie diverse Fotografen (was natürlich immer wieder zu Konflikten führt, andererseits besteht zu den aktivsten meist eine gute vertrauensbasis hinsichtlich Gesichter-nicht-erkennung), die ihre Fotoalben auf flickr oder eigene Blogs stellen, gefüllt wird.

Der Kampf um die öffentliche Meinung wird in Zürich vermutlich von vielen als aussichtslos betrachtet, nur hin und wider finden sich (in der Regel anonyme) Aussendungen auf Indymedia. Andererseits gibt man so der Polizei keinerlei Angriffsfläche, wodurch diese sich nach jedem Krawall wieder splitternackt den Medien und der (rechten) Opposition stellen und den Vorwurf gefallen lassen muss, komplett ahnungslos zu sein - was auch seine Reize hat. Alternative, unabhängige Medienschaffende, zu denen ein Vertrauensverhältnis (insbesondere was den Schutz der Anonymität der AktivistInnen betrifft) besteht und die ohne Verfolgungsdruck Meldungen veröffentlichen können, die Dinge beschreiben, die nur Anwesende gesehen haben können, könnten die Anonymität der AktivistInnen gewährleisten und durch Dokumentation und Veröffentlichung von Polizeigewalt via (etablierter) Medien (die zumindest in größeren Fällen oder bei spektakulären Aufnahmen auf den Zug aufspringen) und einer informiert(er)en Öffentlichkeit Druck auf die Polizei ausüben. Die Polizei wird aus Steuergeldern informiert und es das gute Recht eines jeden, ihr bei der Arbeit gründlich auf die Finger zu schauen.

weitere Links (Auswahl):
-
videoportal.sf.tv: Kurzbericht des Schweizer Fernsehens (das gleiche Video, es handelt sich offenbar um Agenturmaterial (das erklärt auch, warum SF nur 50 Sekunden lang berichtet und das ganze abrupt abwürigt), findet sich unkommentiert auch auf orf.at)
- rjz.ch - Revolutionäre Jugend Zürich: Fight for your Right to Party!
- linksunten.indymedia.org: (Jugend) Unruhen in Zürich (Schweiz)?

Dienstag, 13. September 2011

TierschützerInnen des VGT blockieren Landwirtschaftsministerium

Seit Montag, 12. September, 6 Uhr früh, blockieren 30 bis 40 AktivistInnen des VGT (Verein gegen Tierfabriken) alle Zugänge zum "Lebensministerium", so die Eigendefinition des Landwirtschaftsministeriums, am Stubenring 1. Entgegen voreiliger Meldungen sämtlicher (!) Medien, die schon am frühen Abend die Auflösung der Blockade verkündeten, was bis dato noch nirgends korrigiert wurde, obwohl weiterhin rund 30 Personen vor dem Landwirtschaftsministerium ausharren, wie ein Redakteur von WienTV.org, der vor Ort mit den BesetzerInnen ausharrt, ausrichten lässt (Stand: 13.9., 4 Uhr). Auch LeserInnen-Kommentare, etwa auf derstandard.at, die ebenfalls bezeugen, dass die Blockade nicht aufgelöst wurde, veranlassen keinen Journalisten und keine Journalistin in Österreich zur Änderung der Artikel.

Räumungsversuch scheitert - Blockade überdauert Nacht

Die Polizei hat den Versuch, die Blockade am Nachmittag mit 50 bis 100 WEGA-BeamtInnen aufzulösen, nach einigen Personen abgebrochen (was der ORF-Redakteur offenbar nicht mehr erlebt hat). Ein Seitentor konnte dabei befreit werden, die Feuerwehr installierte einen Holzbanken, um die neuerliche Schließung des Tores zu verhindern. Die übrigen, insbesondere das Haupteingangstor, ist weiterhin mit angeketteten Menschen blockiert. Um den gesamten Eingangsbereich hat die Polizei Sperrgitter aufgebaut, die AktivistInnen befinden sich teils innerhalb (u.a. die Angeketteten), teils außerhalb der Absperrung.

sämtliche Versuche von Polizei und Feuerwehr, die Angeketteten vom Haupttor zu entfernen, scheitern, die Blockade dauert die ganze Nacht über an (Fotos: (c) Martin Juen (oben), VGT (unten))


Die Stimmung unter den BlockiererInnen wird als friedlich und gut beschrieben. Mit einem neuerlichen Räumungsversuch wird vermutlich mit Beginn der Bürozeiten zu rechnen sein.

die einzige kriminelle Organisation ist der Staat ...

Der Protest der TierschützerInnen des VGT, die in den letzten Jahren vor allem aufgrund des aufsehenerregenden Prozesses nach § 278a, dem sogenannten "Mafia-Paragrafen", als "kriminelle Organisation" angeklagt waren und erst vor wenigen Monaten in allen Punkten frei gesprochen wurden. Ihre Existenzen wurden durch die monatelange U-Haft, spektakuläre Razzien inklusive Beschlagnahme von Computern und anderem Privateigentum sowie hohe Gerichtsgebühren und Prozesskosten über mehrere Jahre nahezu vernichtet.

Mit der Kampagne gegen Kastenstandhaltung in der Schweinezucht in Österreich, die seit einigen Wochen läuft und mit einem im Kastenstand eingesperrten VGT-Obmann Martin Balluch bereits Medienaufmerksamkeit erlangte, zeigen die TierschützerInnen, dass sie sich trotz, und wohl auch gerade wegen der großen Bemühungen, sie mundtot zu machen, nicht von ihren Bestrebungen für ein besseres Leben von Mensch und Tier im Einklang mit der Natur nicht abbringen lassen wollen.

Dass ausgerechnet die sich "Lebensministerium" nennende zuständige Behörde diesen Forderungen mit Verweis auf die Gewinnspannen der 8.000 österreichischen Schweinemastbetriebe nichts abgewinnen kann, sollte eigentlich überraschen. Tut es aber nicht. Wir sind gewohnt, dass Profitinteressen einzelner über das Allgemeinwohl gestellt werden. Eine nicht nur schlechte, sondern auch kontraproduktive Angewohnheit.

weiterlesen:
- VGT.at: Landwirtschaftsministerium blockiert weil Kastenstandverbot verweigert
- VGT.at: Weiter Tierschutzblockade: Landwirtschaftsministerium seit 7 Stunden geschlossen
- VGT.at: Seit 10 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: JETZT: Polizei räumt Tierschutz-Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: 14 1/2 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministerium nicht gebrochen

weitere Fotos:
- Martin Juen: VGT blockiert Lebensministerium | Wien 12.09.2011

Mittwoch, 19. Januar 2011

In Deckung gehen, die größte Menschenrechtsorganisation ist unterwegs!

In den letzten Tagen wurden mehrere Verhaftungen von nigerianischen Flüchtlingen, die teilweise seit 8 bis 10 Jahren in Österreich leben, bekannt. In einem Fall sprang ein Mann aus dem Fenster seiner Wohnung und verletzte sich schwer. Auch ein (weiterer) FC Sans Papiers-Spieler soll unter den Verhafteten sein. In einem anderen Fall wurde eine Frau, die von Menschenhändlern zur Prostitution gezwungen wurde, verhaftet, nachdem sie bei der Polizei eine Aussage gegen die Menschenhändler gemacht hatte. Die Polizei, befohlen von einer feigen und menschenverachtenden Politik, geht natürlich nicht gegen die Menschenhändler vor (diese sind ja gefährlich!) sondern gegen deren Opfer. Die Menschenhändler können also ungestört weiter machen, denn wer gegen sie aussagt wird von der österreichischen (!) Polizei (!) beseitigt (!). Dieses Vorgehen ist auch schon im Fall "abtrünniger" Tschetschenen bekannt, wo die tschetschenischen Auftraggeber von der österreichischen Polizei geschützt werden und politische Auftragsmorde folgenlos bleiben. Oder auf städtischer Ebene vom Bettelverbot, das sich angeblich gegen "organisiertes Betteln" wendet, aber in der Praxis nur gegen die Bettler selbst, nicht jedoch gegen etwaige Hintermänner angewendet wird.

"Menschenhandelsopfer, Brandanschlagsopfer, Fußballspieler und rund 30 mehr"

(Zitat: nochrichten.net)

Bei jenem Frontex-Abschiebeflug, der in der Nacht vom 19. auf 20. Jänner 2011 abgewickelt wird (vermutlich zwischen 0 und 1 Uhr) sollen dem Vernehmen nach insgesamt 15 (bis 20 oder 30) Personen abgeschoben werden. Ob ein Zusammenhang zu den Vorfällen im Wiener Tanzlokal "Congo" besteht, wo unter dem polizeiintern gebräuchlichen Schlagwort "Neger umhacken" mehrere afrikanisch-stämmige Personen beschimpft, schikaniert und unter fadenscheinigen Vorwürfen angezeigt wurden, besteht, ist nicht bekannt. Offenkundig ist aber das in letzter Zeit immer drastischere Vorgehen gegen Flüchtlinge mit dunkler Hautfarbe (von Populisten und Rechten pauschal als "Drogendealer" diffamiert) durch die Polizei (vgl. hierzu auch den kürzlich vor Gericht verhandelten Fall Mike Brennan).

Vor Gericht werden sich jene Beamte, die vor Ende des Verfahrens über humanitären Aufenthalt (beim MA 35 anhängig) vollendete Tatsachen geschaffen haben, jedoch nie verantworten müssen. Eine Verfahren zu "humanitärem Bleiberecht" hat keine aufschiebende Wirkung. Es ist zudem kein Recht, sondern wird nach freiem Ermessen der zuständigen (Weisungsgebundenen) Beamten gewährt oder auch nicht gewährt (oder das Verfahren wird überhaupt eingestellt, da die Polizei während des Verfahrens abschiebt).

kleine Demonstration - große Polizei

Am Vorabend des 19. Jänner wurde via Twitter und Facebook zu einer Demonstration um 17 Uhr vor dem Polizeianhaltezentrum (PAZ) Rossauer Lände aufgerufen. Etwa 50 Personen folgten dem Aufruf. Medienberichte, denen zufolge der Aufruf vom Verein Purplesheep stammt, sind nicht wahr und werden vom Verein auf Facebook dementiert. Die Kundgebung war nicht angemeldet und wurde nach wenigen Minuten eingekesselt und nach 1,5 Stunden Polizeikessel aufgelöst. Nachdem die versammelten Personen die Straße vor dem PAZ Rossauer Lände betraten wurde sofort die Auflösung und Räumung angekündigt bzw. angedroht. Die Menge setzte sich daraufhin (wie üblich) in Bewegung, die Polizei forderte Verstärkung an und stoppte die Demonstration auf Höhe Hörlgasse 14, Ecke Liechtensteinstraße. Die Personalien der DemonstrantInnen sowie unbeteiligter PassantInnen (auch die NEWS-Redakteurin Corinna Milborn befand sich darunter) wurden aufgenommen, Anzeigen wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und die Straßenverkehrsordnung drohen. Strafrahmen: Im Wiederholungsfall bis zu 700 €.

Gezählte 14 VW-Kleinbusse, 8 Streifenwagen und 1 (unbenötigter) Gefangenentransporter waren im Einsatz. Nach Auskunft anwesender Personen soll ein Beamte gesagt haben, dass es sich bei diesem überdimensionierten Einsatz um eine "Übung" für die No-WKR-Demonstration am 28. Jänner handeln soll.

Klotzen, nicht kleckern, heißt es, wenn es um Einsätze der Wiener Polizei gegen Men
schenrechtsaktivistInnen geht - ein Engagement, das man beim (kaum vorhandenen) Vorgehen gegen organisierte Kriminalität (und damit mein ich nicht TierschützerInnen, sondern Auftragsmorde, Korruption und rechtsextreme Brandanschläge) vermisst.







In der Tat sind solch überdimensionierte Einsätze selten, jedoch nicht ungewöhnlich (auch in der ersten Hälfte des Jahres 2010 wurde besonders massiv gegen Anti-Abschiebungs-Demonstrationen vorgegangen, ein Mal war sogar ein großer Polizeibus im Einsatz, die Demonstranten wurden von einer Hundertschaft von Polizisten ab dem Schwedenplatz durch die Innenstadt gejagt). Bekannt ist aber auch, dass die Polizei vor Großereignissen tatsächlich kleinere Ereignisse zum Anlass für hartes Durchgreifen heranzieht. So etwa im Vorfeld der EM 2008.

Rassistische Wortmeldungen von Polizisten

Mehrere rassistische Wortmeldungen von Polizisten wurden dokumentiert. Eine Passantin fragt, um was es bei der Demo geht. Antwort des Polizisten: "Das sind Menschen die nicht wollen das kriminelle Ausländer abgeschoben werden." Polizist zu einem Demonstranten: "Wegen a bor Nega gehts es demonstriern?" (Quelle)

Weitere Informationen (siehe auch Links im Fließtext)

- Daniel Weber: DEMO gegen die Abschiebung von mindestens 3 Asylwerbern nach Nigeria (Bericht mit Fotos und Videos)
- NEWS: Neuer Skandal um Abschiebung: Opfer von Frauenhandel droht in Nigeria der Tod
- No-Racism.net: Proteste gegen Sammelabschiebung am 20. Jänner 2011
- wirbelwind.noblogs.org: Demonstration gegen geplante Abschiebung nach Nigeria
- nochrichten.net: Menschenhandelsopfer, Brandanschlagsopfer, Fußballspieler und rund 30 mehr: Sammelabschiebung nach Nigeria in der Nacht auf 20. Jänner – Protestaktionen und Polizeikessel. (besonders ausführlich!)
- Grüne Wien / Klaus-Werner Lobo: Opfer von Menschenhandel darf nicht abgeschoben werden! (OTS-Aussendung)
- Martin Juen: Polizeikessel bei Demonstration gegen Abschiebung | 19.01.2011 (flickr-Fotoalbum)

Montag, 23. August 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 2: Am Anfang war: Die Krise der Stadt

Bevor hier von einer Hausbesetzung zur nächsten gesprungen wird, noch ein weiterer Teil zu jenem gesellschaftlichen, strukturellen (Raum- und Verkehrsplanung und -entwicklung) und wirtschaftlichen Wandel, der die Entstehung von "Widerstand" (gegen Abriss, gegen Neubau, gegen Straßen usw.) überhaupt erst möglich bzw. notwendig gemacht hat. Dies erscheint mir insofern wichtig, da auf diese Hintergründe meist nur selten eingegangen wird - zum einen wohl deswegen, da sie niemand (der nicht selbst von Anfang an, also schon in den 60ern, 70ern, dabei gewesen ist) kennt, zum anderen, weil man sich damit zufrieden gibt, dass es "halt" irgendwann zwischen 1968 und 1980 überall angefangen hat, "das mit den Besetzungen und so"... Auch hierfür nütze ich wieder Wo-Wo-Wonige!, jene umfangreiche, als Buch veröffentlichte, Dissertation von Thomas Stahel, als hilfreiche Quelle, die uns "Nachkommenden" jene jahrelange, mühselige Recherchen in Archiven, Bibliotheken und Hauskellern erspart, die Stahel augenscheinlich auf sich genommen hat.

Nach dem Krieg: Aller Platz den Autos, alle in die Städte!

Bevor die Stadt "in die Krise" kam, geschah folgendes: Wir schreiben das Jahr 1950: die Welt hat sich von den gröbsten Kriegsschäden erholt, die Trümmer sind weg (und in der Schweiz gab es sowieso kaum welche) und alle feiern den Wirtschaftsaufschwung. Die Massenproduktion feiert ihren Siegeszug um die Welt und macht Dinge für Jedermann und Jederfrau erschwinglich, die in den (ohnehin von der Weltwirtschaftskrise von 1929 gezeichneten) 30er-Jahren noch Luxus waren: das Haus im Grünen, das eigene Auto und der paradiesische Supermarkt mit großem Parkplatz nur wenige Fahrminuten entfernt.

Die Schweiz unterscheidet sich zu dieser Zeit kaum von anderen westlichen Ländern: Von 1950 bis 1970 nimmt die Zahl der Autos um 700 % zu, von 1952 bis 1972 verdoppelt sich die überbaute Fläche in der Schweiz. Was das heißt, muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen: die selbe Fläche, die in Hunderten bis Tausenden von Jahren vor 1952 in der Schweiz bebaut wurde (also Gebäude, Straßen und Plätze jeglicher Art), wurde binnen 20 Jahren nochmals bebaut --> Stichwort: Zersiedelung, (fehlende!) Raumplanung. In einer Zeit, wo sich Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus, mit Atomwaffen gerüstet auf einen zumindest verbalen und ideologischen Kampf um Leben und Tod konzentrierten, genügte es schon, den bloßen Gedanken an eine geordnete Raumplanung als "kommunistisch" zu bezeichnen, und die Debatte war vom Tisch. Einzig bei der Verkehrsplanung zogen alle Parteien und Interessensvertretungen an einem Strang: Die Schweiz benötigte dringend ein hochrangiges Straßennetz: das Nationalstrassen-Projekt soll raschestmöglich verwirklicht werden, und zwar möglichst ins Zentrum jeder großen Stadt: Praktischerweise haben die meisten Großstädte Flüsse im Zentrum, die sich doch bestens für Autobahnen auf Betonstützen eignen. Ähnliche Projekte gab es übrigens auch in Wien: Die Westautobahn sollte über den Wienfluss bis zum Karlsplatz geführt werden. Die meisten dieser Projekte scheiterten zum Glück.

All diese Veränderungen sind Folgen eines grundsätzlichen wirtschaftlichen Wandels, der wiederum auf extreme Produktivitätssteigerungen (in der Landwirtschaft wie in der Industrie) zurückzuführen ist. Während die Industrie auch in der Schweiz noch bis in die 60er-Jahre Wachstumsraten verzeichnete, ging die Bedeutung der Landwirtschaft sowohl als Arbeitgeber als auch wirtschaftlich stark zurück, zugunsten von massiven Expansionsraten im Dienstleistungsbereich: die Stadt wird mit Büros für dieses und jenes überwuchert. Alte Gebäude müssen weg, doppelt so hohe mit zehn mal so vielen Räumen für Büros müssen her. Und dass die Büros nicht auf den Grundstücken ehemaliger Bauernhöfe sondern in der Stadt gebaut wurden und werden muss nicht extra erwähnt werden. Dieser Wachstumsboom in den Städten beflügelte aber nur die Tendenz der Bevölkerung, sich in der Nähe von Städten (statt mittendrin) ansäßig zu machen - also noch mehr Zersiedelung, noch größere Straßen, die Stadt und Vorstadt verbinden.

Die Utopie des unbegrenzten Wachstums in vorgegebenen, immergleichen Mustern und Strukturen (immer mehr Wohnklötze, Büroklötze, Autobahnen und Einkaufszentren - mit der Folge: zunehende Anonymisierung, Entfremdung von Stadt und Lebensumwelt, Zerstörung von althergebrachten sozialen und ökonomischen Gefügen) wird zunehmend zur Dystopie: Reißbrettstadt-Visionen à la Le Corbusier & Co erscheinen immer mehr als Bedrohung denn als "logische" nächste Stufe auf dem Weg in die Zukunft des "modernen" Menschen.

Dennoch: der "Boom" der Vorstädte blieb vorerst ungebrochen. Bis in die 70er, 80er-Jahre dauerte jene Phase des durch Abwanderung in die "grünen" (zubetonierten) Vorstädte und -orte bedingten Städteschrumpfens, das letztlich nur noch Arme, Alte und andere "Randgruppen" in den Städten zurückließ, die es sich eben nicht leisten konnten, ein Haus im "Grünen" zu bauen. Freilich blieben diese Leute nicht in den Innenstädten zurück, die schließlich mit teuren Büros und Geschäftsflächen zugepflastert wurden, sondern in den Wohnvierteln rund um die Innenstädte. Erst in den 80er-Jahren ging der Bevölkerungsrückgang in Zürich zurück, seit den 90ern nimmt die Bevölkerung wieder zu: Nun beginnt jene Phase der für westliche Städte typischen "Rückbesinnung" auf die Städte, die im kapitalistischen Rahmen zu einem neuen Phänomen führte (und immer noch führt): die Gentrifizierung. All jene, die entgegen aller Trends in den Städten geblieben sind, sollen nun mit aller Gewalt aus ihren Häusern entfernt werden, um neuen, prestigeträchtigen Yuppie-Wohnungen Platz zu machen... aber das ist ein anderes Kapitel, wir sind noch in den 1960ern...

Zu dieser Zeit sprach man also allmählich von der Krise der Stadt. Anfang und Mitte der 60er erscheinen erstmals Bücher die sich explizit den (negativen) Folgen der Suburbanisierung widmen: "Die Unwirtlichkeit der Städte" (über die Vernachlässigung der psychischen Bedürfnisse im modernen Städtebau) des Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich. Qualitative Defizite des quantitativen Massenwohnungsbaus werden aufgezeigt. Schlagworte lauten: architektonische Monotonie und Reizarmut, Anonymisierung, Konzentration des Eigentums. Ein Diskursprozess setzt ein, der sich für "eine andere Stadt" stark macht. Beflügelt durch revolutionäres Aufbegehren im Zuge der Hippie-Bewegung und der internationalen 68er-Proteste kam es auch in Zürich zu ersten Protesten, die sich an der lange ungehörten Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum entzündeten.

Vom Mieterkampf zum Häuserkampf: Es regt sich Widerstand

Es dauerte bis in die 60er-Jahre, als nach und nach vereinzelt Stimmen in der Öffentlichkeit laut wurden, die sich kritisch diesem schranken- und gewissenlosen Wachstum von Städten und Verkehr zulasten von Natur, Freiraum und sozialen Strukturen gegenüberstellten. Das andauerende, rücksichtslose Niederreißen von prächtigen Altbauten in den Städten (was auch in Wien exzessiv betrieben wurde) zugunsten uniformer, aalglatter Betonklotze zu Wohn- und Arbeitszwecken stieß zunehmend auf Widerstand. Zunächst waren es vor allem Mieterstreiks und Mieterproteste: Der sogenannte Mieterkampf war stets lokal verankert, mobilisierte Bewohner und Nachbarn gegen Abriss- und Neubauprojekte - gegen Gentrifizierung, würde man heute wohl sagen. Diese Proteste sind überwiegend kaum oder gar nicht dokumentiert, das öffentliche (oder genauer gesagt: das mediale) Interesse hielt sich in Grenzen.

Es dauerte noch eine Weile, bis aus diesem Mieterkampf der Häuserkampf wurde. Den Protest auf die Straße brachte aber zunächst die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum - eine Forderung, die die Stadt gerne auf die lange Bank schob und die am 31. Mai 1968 nach einem Jimi Hendrix-Konzert im Hallenstadion in Schlachten mit der Polizei beantwortet wurde.

Globuskrawall: Die Jugend begehrt auf und stellt ein Ultimatum

Nachdem die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum (AJZ) nicht bzw. mit einer provisorischen Notlösung in einem leerstehenden Warenhaus ("Globus"), dem sogenannten "Globus-Provisorium" beantwortet wurde, wo die Jugend zwei Tage (?) bleiben durfte, stellte die Jugendbewegung der Stadt ein Ultimatum: Bis zum 1. Juli müsse die Stadt ein dauerhaft geeignetes Gebäude für ein AJZ bereit stellen, oder ...? Ja, was wollen die schon machen, werden sich die Stadtobersten gedacht haben. Die Stadt zeigte keinerlei Verständnis und ging nicht auf die in ihren Augen anmaßenden Forderungen ein. Am 29. Juni 1968 kam es zu einer Demonstration, die in einer Straßenschlacht mit der Polizei endete, die als Globuskrawall in die Stadtgeschichte einging. Die Polizei ging mit voller Härte gegen die Demonstranten vor, die sich wiederum zu Notwehr berechtigt sahen. Die Jugendbewegung wurde an diesem Abend "wortwörtlich zerschlagen", so Stahel. Die Szene spaltete sich auf in "Ouvrieristen" ("Avantgardisten") und "Spontis" ("Autonome) (daher hat der alte 68er Hahn also dieses Wort...?). Erstere sahen sich in der Tradition des Klassenkampfes, zweitere entwickelte spontane und subkulturelle Organisationsformen.

"Urbane Probleme" standen im Fokus der damaligen Jugendbewegungen. Also jene in den vorigen Abschnitten beschriebenen "entfremdenden" Entwicklungen, aber auch die in meinem letzten Blog-Eintrag, dem Ersten Teil dieser Serie, beschriebene latente Wohnungsnot. In diese Zeit fiel auch die Aufhebung des Mietnotrechts, das bis dahin Mietpreiserhöhungen überwachte und regulierte sowie angemessene Kündigungsfristen gewährleistete, was die Bereitschaft zu Protestaktionen weiter erhöhte. Es kam zu ersten Hausbesetzungen, die sich gegen Wohnraumspekulation und "City-Ausdehnung" (die von der Innenstadt ausgehende Urbarmachung umliegender Stadtviertel für Immobilienprojekte und -spekulation zulasten der eingesessenen Wohnbevölkerung, also im Grunde nichts anderes als Gentrification) richteten.

Eine andere Stadt ist möglich: Eine Bewegung entsteht

Wie sehr die Wohnraum-Frage in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses gerückt war, zeigt auch, dass es um 1970 nicht nur eine nationale Volksinitiative für das Recht auf Wohnraum gab, sondern dass sie nur knapp abgelehnt wurde.

Auf unterschiedlichen Ebenen setzte man sich nun für die "andere Stadt" ein. Neue Straßenverkehrsprojekte wurden grundsätzlich infrage gestellt, die Belastung für Anwohner solcher Straßen rückte in den Vordergrund und wurde nichtmehr als "unvermeidbare Folgeerscheinung" akzeptiert. Die Avantgardisten versuchten, unzufriedene Teile der Bevölkerung zu politisieren, die SP (Sozialdemokraten) lancierte den "Appell von Zürich zur Rettung der Städte" und universitäre Kreise starteten "die erste grosse Stadtentwicklungsdebatte" und erklärten das geplante Projekt einer Autobahn über den Flüssen Sihl und Limmat in die Innenstadt zum "Inbegriff der Stadtzerstörung".

Trotz aller Unterschiede in Reichweite und Radikalität kann daher, so Stahel, von einer breiten Bewegung mit einer gemeinsamen Identität gesprochen werden. Die direkte Demokratie der Schweiz kam diesen Gruppierungen und Initiativen dabei zugute. Viele Projekte - Autobahn-Ausdehnungen in die Innenstadt, Parkhäuser, Wohnsiedlungen auf Grünflächen usw. - wurden zum Objekt von Volksabstimmungen gemacht und abgelehnt. Am deutlichsten zeigte sich die Kraft der Bewegung laut Stahel am Projekt einer U- und S-Bahn im Jahr 1973. Das Projekt galt anfangs als unbestritten, doch kippte die öffentliche Meinung nach diversen Kampagnen und Aktionen binnen weniger Monate ins Negative und wurde schließlich per Volksentscheid abgelehnt. Die Kritik richtete sich gegen die absehbare Mietpreisexplosion und Verdrängung der ansäßigen Wohnbevölkerung in Folge der enormen Attraktivitätssteigerung rund um die geplanten U- und S-Bahn-Stationen. Die Ablehnung dieses Projektes durch das Volk brachte die "Wachstumskoalition" zum Zusammenbruch und führte allmählich zu einem Paradigmenwechsel in der Stadtpolitik. Nicht zuletzt auch durch die Ölkrise von 1973, die den Glauben an grenzenloses Wachstum und automatische "Höherentwicklung der Gesellschaft" weiter ins Wanken brachte. Die darauffolgende Rezession gab der Stadt schließlich auch eine Verschnaufpause, die den angefangenen Paradigmenwechsel - von unbegrenztem, rücksichtslosem Wachstum zu "Stabilisierung" - vollendete.

Gleichzeitig führten Entlassungen in den Fabriken auch zu einer ablehnenderen Haltung von ArbeiterInnen gegenüber "jeglicher subversiver Mobilisierung". Die stärkste Phase der Bewegung, die laut Stahel von 1970 bis 1974 andauerte und als Ergebnis den besagten städtebaulichen Paradigmenwechsel hervorbrachte, ging auch deshalb zu Ende. Die meisten revolutionären Gruppierungen, die aus den 68er-Unruhen hervorgegangen waren, lösten sich bis spätestens 1976 auf.

Die ungebremste, seit den 50er-Jahren anhaltende "Bauwut" konnte zwar nicht beendet werden, aber zumindest gebremst. Zwischen 1968 und 1974 entstand jener Kompromiss zwischen der Wachstums- und Modernismus-Fraktion, die bis dahin ohne Widerstand das Geschehen dominiert hatte, und linken, alternativen Gruppierungen, Initiativen und Bewegungen, der zum einen den besagten Paradigmenwechsel hervorgebracht hatte und zum Anderen die Stadtentwicklung von Zürich bis heute prägt. Volksabstimmungen sind hierbei die stärkste Waffe, die neoliberalen, kapitalistischen, kommerziellen (Groß-)Bauprojekten entgegen gehalten werden können.

Der Aufbau (zivilgesellschaftlicher, oppostioneller) Strukturen und Organisationsformen zur Aufklärung und Mobilisierung der Bevölkerung für oder gegen Projekte und Initiativen wurden damals geschaffen und haben sich bis in die Gegenwart weiterentwickelt, ausgebreitet und teilweise auch institutionalisiert (Stichwort: NGOs).

So viel zu den Hintergründen, den Verbindungen zwischen Mikro- und Makro-Ebene und der gesamtstädtischen Baupolitik insgesamt. Im nächsten, dritten Teil, kommen wir dann endgültig im Detail zu den direkten Aktionsformen auf der Straße und in den Häusern - als Übergang zu den Besetzungen der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart (worüber ich in der Zwischenzeit weiter recherchiere).

- Quelle: Thomas Stahel: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968. Paranoia City Verlag, Zürich 2005, S. 55-66
 
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