Mittwoch, 1. September 2010

Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich, Teil 5: Hausbesetzungsbewegung 1993 bis 2005

Nach der Räumung der Wohlgroth am 23. November 1993, bei der "das ganze Arsenal militärisch-polizeilicher Gewaltmittel in einem Ausmass [eingesetzt wurde], dass damit für die Schweiz neue Massstäbe gesetzt wurden", kam es zwei Nächte lang zu gewalttätigen Protesten mit über einer halben Million Franken Sachschäden in der Innenstadt. Die gewalttätigen Proteste wurden von manchen Zeitungen übrigens schon vor deren Eintreten "herbeigeschrieben". (Stahel, S. 334; Zitat aus Flugblatt "Alles wird Wohlgroth", Dezember 1993, nach Stahel, S. 356) Zahlreiche Tageszeitungen berichteten über die Räumung und die Ausschreitungen, die Rede war teilweise auch von "Berufs-Chaoten aus dem Ausland" (wohl eine Abwandlung des bei reaktionären Kräften und Medien allseits beliebten "deutschen Berufsdemonstranten").

Abkühlung bis 1996

Bis 1996 blieb es dann in Zürich vergleichsweise ruhig, die (dritte) "Besetzungs-Welle" war abgeflaut, zu Ende. Kaum eine Besetzung konnte sich länger als ein Monat halten. Darunter das "Taro" in der Limmatstrasse 28, das "zufälligerweise" einen Tag nach der Wohlgroth-Räumung besetzt wurde (also am 24. November 1993) und sich immerhin bis 5. Juli 1994 halten konnte. An dieser Stelle muss übrigens einmal angemerkt werden, dass HausbesetzerInnen grundsätzlich "vom Himmel" fallen (Zitat eines Zürcher Besetzers) - es gibt offiziell keine Kontinuitäten unter den Hausbesetzungen über einen längeren Zeitraum. Dies ist natürlich eine Schutzbehauptung, schließlich möchte kein Hausbesetzer mit einer ehemaligen Hausbesetzung in Verbindung gebracht werden, wodurch er zum Ziel von Anzeigen (Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, was auch immer...) werden könnte.

HausbesetzerInnen fallen vom Himmel!

Ich behalte mir daher vor, mich an diese Devise zu halten. Es ist zwar auszugehen, dass der Polizei durchaus bewusst ist, dass die eine oder andere Hausbesetzung mit einer ehemaligen Besetzung zusammenhängt und gewisse Kontinuitäten bestehen, doch gibt es scheinbar kein großes Bedürfnis, die gesamte Szene zu kriminalisieren und zu verfolgen - das widerspräche schließlich auch der liberalen Räumungspraxis und dem toleranteren Umgang mit Besetzern seit 1990. Doch verfügt die Polizei vermutlich trotzdem über verschiedene Aufzeichnungen zur Szene, die nicht öffentlich bekannt sind, um, wenn es den obersten Gesetzeshütern oder Stadtpolitikern "nötig" erscheint, eingreifen zu können. Man denke bloß an einen Wechsel an diesen Spitzen und geänderte politische Vorzeichen.

Daher werde ich - abgesehen von diesem nun 16 Jahre zurückliegenden Fall - keine (potentiellen) Zusammenhänge zwischen Hausbesetzungen herstellen. Es gibt regelmäßig "Übersiedelungen" von HausbesetzerInnen, die Gruppen unterliegen häufig einer regen Fluktuation - manche verlassen das Haus oder die Szene, neue kommen dazu, manchmal wechseln BewohnerInnen zwischen den Häusern. Die Daten (im Sinne des Plurals von "Datum") alleine beweisen also ohnehin noch nichts. Selbst wenn sich über 20 Jahre hinweg Verbindungen zwischen besetzten Häusern rein von den Räumungs- und Besetzungsdaten "nachweisen" lassen könnten, kann man daraus noch lange nicht schließen, dass die BesetzerInnen von damals identisch mit jenen von Heute sind. Auch Hausbesetzen ist schließlich nur in den seltensten Fällen eine "Lebensphilosophie" (in diesem Sinne, dass sie ein Leben lang gelebt wird) - nur sehr wenige HausbesetzerInnen, soweit mir bekannt, sind älter als 30, 40 Jahre. Die meisten sind wohl zwischen 15 und 25 Jahre alt.

HausbesetzerInnen - ein übles Pack?

Man denkt dabei nun sicher an SchulabbrecherInnen, "Aussteiger", ("wilde") Punks und AnarchistInnen. Doch Fakt ist: Auch HausbesetzerInnen müssen irgendwie zusammenleben, also miteinander auskommen. Menschen, die keine Rücksicht auf andere nehmen (also das ("bürgerliche"?) Klischee von "wilden" Punks und Anarchisten) haben es also, trotz dieser Klischees, auch bei Hausbesetzungen nicht leicht und müssen sich entweder an gewisse Regeln des Zusammenlebens anpassen - oder sich eine andere Bleibe suchen. Allerdings: Es gibt eine große Vielfalt von HausbesetzerInnen: Manche Häuser unterscheiden sich kaum von benachbarten Familien- oder Wohnhäusern, andere hingegen entsprechen gewissen Klischees schon eher, und man fragt sich, wie diese Leute miteinander auskommen. Dies sei an dieser Stelle auch einmal erwähnt, bevor man sich allzu realitätsfremde Bilder der Szene und der darin befindlichen Menschen macht.

Vielfach wird beklagt, auch Stahel bemerkt dies, dass heutige HausbesetzerInnen wesentlich unpolitischer sind als damalige. Das mag durchaus, in gewissem Ausmaß, stimmen: man ist (häufig) wesentlich pragmatischer. Man hat sich damit abgefunden, dass es kein "entweder oder" gibt, sondern ein Nebeneinander von verschiedenen Lebensphilosophien. Vielleicht fühlt man sich von einem gewissen Druck entlastet, seit man immer mehr der Überzeugung sein kann, dass sich der Kapitalismus ohnehin selbst zerstört. Man zieht sich daher auf seine "Inseln" zurück, grüßt freundlich die Nachbarn, die täglich um 8 ins Büro fahren, die Kinder dem Kindermädchen überlassen und am Abend heimkehren, nimmt dankbar ihre alten Möbel an, die sie gelegentlich vorbeibringen. Man polstert die Wände, Fenster und Garagentore mit Matratzen aus, bloß um die Nachbarn nicht zu sehr zu stören. Auch so kann Hausbesetzen heute aussehen. Wer diese "Regeln" des Zusammenlebens nicht beachtet, kann hingegen rasch in heftige Konflikte sowohl mit Nachbarn, als auch mit Eigentümer und Polizei bekommen. Auch das gibt es nach wie vor, aber eher bei unerfahrenen "Anfängern", und nur sehr selten. Egal ob man Party machen will, dem Kapitalismus entsagt oder einfach nur "gratis Wohnen" will - der gemeinsame Nenner bei allen Arten von Hausbesetzern, von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist: Man will in Frieden mit sich selbst, mit den Mitbewohnern, mit den Nachbarn leben.

Neuer Pragmatismus

Dieser neue Pragmatismus bringt auch Vorteile: Statt sich an unendlichen Diskussionen über die Vereinbarkeit des Seins und Tuns mit dieser oder jener Ideologie, mit dem Klassenkampf, mit der radikalen Ablehnung des Kapitalismus oder was auch immer zu beschäftigen, lebt man im Hier und Heute eine andere Lebensmöglichkeit vor. Man besorgt die Brötchen vom Bäcker nebenan, bevor dieser sie wegschmeißen muss. Man holt Gemüse, Margarine oder andere Lebensmittel vom Supermarkt-Container, da diese ihre Waren am Tag des Ablaufens oder oft sogar schon vorher (wenn für eine neue Lieferung Platz gemacht werden muss) entsorgen. Das führt dann auch zu scheinbar paradoxen Ergebnissen wie jenem, dass man im Müllcontainer des Supermarkts schönere, reifere, gelbere Bananen bekommen kann, als im Supermarkt, wo sie grün angeliefert werden und entsorgt werden, wenn sie gelb sind.

Aktionismus statt Klassenkampf

Seine politische Verantwortung als HausbesetzerIn nimmt man durch den regelmäßigen Besuch von unkommerziellen und/oder antikapitalistischen Veranstaltungen, Workshops, Versammlungen, Demonstrationen, Camps usw. wahr. Gelegentlich organisiert man eine massen- und medienwirksame Aktion, bei der absurde Auswüchse des Kapitalismus bloßgestellt werden sollen, die von den meisten Menschen weder als absurd noch als Auswuchs wahrgenommen werden, da sie in ihrem Alltag das Normalste sind, das es gibt. So zeigten AktivistInnen aus der Hausbesetzerszene im Juni 2008 ganz Zürich, was man aus einem leerstehenden Fußballstadion machen kann, wenn man nur will. Ein Wochenende lang wurde das Hardturm-Stadion besetzt, tausende Menschen, also weit über die HausbesetzerInnen-Szene hinaus, besuchten die zahlreichen angebotenen, kostenlosen oder rein kostendeckenden Angebote und Aktivitäten, die im Stadion angeboten wurden. Sogar Tageszeitungen lobten die Aktion, die zwar von gesetzeswegen illegal war, aber vom Stadionbesitzer (Credit Suisse) zwecks Imagepflege geduldet wurde (nachdem ein übereifriger Streifenpolizistentrupp zunächst versucht hatte, die Besetzung zu verhindern, und bloß so nebenbei einen bekannten Pressefotografen verprügelten, weil dieser ihre Überreaktionen fotografierte). Ein Großereignis ganz ohne Sponsoren, ohne Werbung, ohne Hunderte Securities, ohne Eintritt, alles zu rein kostendeckenden Preisen oder gratis? Und das alles ohne unerwünschte Zwischenfälle? Nicht möglich? Doch!

Hausbesetzungen 1996 bis Heute

Aber zurück zur Chronik der HausbesetzerInnenbewegung. Was sich in den 90er-Jahren geändert hat, war auch, dass sich Hausbesetzungen immer weiter außerhalb vom Zentrum der Stadt niederließen. Auch dies ist möglicherweise ein Grund zur höheren Akzeptanz und Beruhigung der Lage. Im Gegensatz zu sündteuren Innenstadt-Grundstücken im Eigentum großer Immobilienunternehmen sieht die Konfliktsituation bei kleinen Wohn- oder Gewerbegrundstücken außerhalb des Zentrums schon von Natur aus wesentlich entspannter aus. Außerdem gab es in der Innenstadt und angrenzenden Stadtteilen kaum noch leer stehende Häuser, ja eigentlich gibt es das gar nicht mehr oder nur noch kurzfristig. Hausbesitzer achten womöglich auch mehr darauf, dass keines ihrer Gebäude komplett leer steht.

Neu war auch, dass häufiger sogenannte Gebrauchsleihverträge ausgehandelt wurden: Einfache, unkomplizierte Verträge, in denen (oft nach Vermittlung der Stadt) die Besetzer mit dem Besitzer vereinbaren, wer für Strom, Wasser usw. aufzukommen hat und bis wann die Besetzung dauern "darf". Dass diese Art Verträge nicht unumstritten ist, braucht wohl nicht extra erwähnt werden, doch sind sie in manchen Fällen sicher eine verlockende, unkomplizierte Lösung.

Einen Anstieg der Neubesetzungen stellt Stahel ab 1999 fest, nachdem die Wohnungsnot wieder einmal einen Spitzenwert erreichte. In den 90ern nahm die Wohnungsnot in Zürich nicht zuletzt auch deswegen wieder zu, da die "Stadtflucht" ihre Vorzeichen änderte: Man floh nicht mehr aus der Stadt, sondern in die Stadt: die Stadt war wieder "cool", die Einwohnerzahl ging ab etwa 1990 nicht mehr zurück, sondern stieg wieder, so stark es das Wohnangebot eben zuließ.

Große mediale Aufmerksamkeit erfuhren in diesem Zeitraum die Besetzungen Egocity (Badenerstrasse 97, 13.4.2001 bis 5.1.2004, Kultursquat), Hotel Garnie (Stauffacherstrasse 180, 182, 23.6. bis 30.9.2001), Restaurant Krone (Badenerstrasse 705, 3.5. bis 16.10.2002), Cabaret Voltaire (Spiegelgasse 1, 2.2. bis 2.4.2002) und jene der Sihlpapier-Fabrik (Gieshübelstrasse 17-19, 7. bis 8. sowie 9. bis 24. Juni 1998 und 7.2. bis 19.6.2003). Ebenfalls über einen längeren Zeitraum besetzt waren in den 90ern: Buhnstrasse 11 (21.6.1990 bis 3.5.1993), Heinrichstrasse 137 (10.7.1990 bis Jänner 1993), Hegibachstrasse 86 (22.1.1991 bis Juni 1997, sowie das Nachbarhaus Nr. 88 von 22.1.1991 bis ca. 6.2.1991), Hotel Ascona (M. Lienert-Strasse 17, 12.9.1993 bis 16.3.1995), Bachmattstrasse 5 (6.12.1993 bis 1.4.1996), Sohokeller (Konradstrasse 19, 25.1.1994 bis Jänner 1996 sowie von 21. bis 24.6.1996), Glatttalstrasse 130 (Winter 1994 bis 1997), Weststrasse 46 (16.11.1996 bis 4.6.1998), Klosbachstrasse 5 (9.11.1997 bis 31.3.2002), Dolderstrasse 89 (mit "Wagenburg", 1.8.1999 bis 2003), Gletiseli (Kellerweg 65, 22.12.1999 bis 1.4.2002) sowie die wohl "etablierteste", längstwährende Besetzung der 90er-Jahre am Zürichberg in der Toblerstrasse, von November 1990 bis 11. Mai 1999.

Außerdem gab es gelegentlich Sauvagen (Besetzung für einen oder wenige Tage rein zu Party-Zwecken) und mit dem Glacegarten (Heinrichstrasse 257, 7.10. bis 9.12.1999) den ersten Kultursquat, also eine Besetzung primär zu Veranstaltungszwecken, wo Wohnen nachrangig ist.

Zwischen 2000 und 2005 gab es außerdem folgende längerwährende Besetzungen:
Plattenstrasse 32 ("Dada-Besetzung", 9.6.2002 bis April 2004, auch medial bekannt geworden, da Besetzer nach Rauswurf auf Basis eines Gebrauchsleihvertrages ihr Wohnrecht einklagen wollten, was via Medien zu heftiger Kritik von Konservativen und Rechten sowohl am Gebrauchsleihvertrag als auch an den Besetzern generell führte), Exil (Hagenbuchrain 30, 34, 16.10.2002 bis 8.2.2005), Jenatschstrasse 8, 10 (21.2.2003 bis 15.8.2006), Gakü (Kronenwiese, Oktober 2003 bis 17.3.2006), Kultursquat Rüdigerstrasse 1 (17.1.2004 bis 15.5.2006).

Auf andere, möglicherweise bekanntere Besetzungen seit 1993 kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, da es schlicht und einfach zu viele sind. Ich werde allerdings im nächsten (oder übernächsten) Teil dieser Blog-Reihe eine Art Besetzungs-Statistik auf Basis des Buches von Stahel, der über 300 Besetzungen in 35 Jahren verzeichnet hat, veröffentlichen, und evtl. auf weitere Besetzungen eingehen. Außerdem sind manche Besetzungen, die nach 2000 gestartet wurden, womöglich noch aktiv, was im 2005 erschienenen Buch jedoch lediglich als "bis ?" erkennbar sein kann (und was auch für einen unbekannten Räumungs-/Auszugstermin vor 2005 stehen kann). Meines Wissens zufolge gibt es jedoch nur wenige Besetzungen nach 2000, die bis zuletzt noch Bestand hatten. Darunter etwa die Kalkbreite (dieses Frühjahr geräumt) oder die Binz (lebendiger als je zuvor) - zu diesen wohl bedeutendsten Squats der 00er-Jahre aber ebenfalls in einem der nächsten Teile.
 
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