Samstag, 15. Januar 2011

Medienfreiheit für Ungarn - kein Blick zurück - Demonstrationen vom 14. Jänner

Foto: Daniel Weber (CC by-nc-sa 2.0)
Am 1. Jänner 2011 trat Ungarn für ein halbes Jahr den EU-Rats-Vorsitz an. Am selben Tag trat ein neues Mediengesetz in Kraft, das zum einen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einer zentralen Lenkung unterwerfen soll, zum anderen das Redaktionsgeheimnis aller Medien aufhebt und Verstöße gegen sehr weit gefasste Vorgaben wie "politische Unausgewogenheit" oder Gefährdung der "nationalen Sicherheit" mit sehr hohen Geldstrafen (bis zu 200.000 Forint bzw. je nach Wechselkurs ~730.000 €, bei Online-Medien und Blogs bis zu 35.000 €) bedroht. Festgestellt werden solche Verstöße durch eine im August 2010 ins Leben gerufene nationale Medienbehörde (kurz: NMHH, siehe auch Wikipedia-Artikel), die zunächst nur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuständig war. Das Problem dabei, sofern die bisherigen Punkte nicht ohnehin schon Problem genug sind: Das Präsidium, das diese Behörde leitet, wurde ausschließlich durch die Regierungspartei Fidesz von Viktor Orbán ernannt. Die Präsidentin der Behörde, Annamária Szalai, wurde sogar auf 9 Jahre ernannt. Also über die nächsten zwei Wahlen hinaus.

Da das Mediengesetz per 2/3-Mehrheit, über welche die Fidesz seit den Wahlen letzten Jahres verfügt, in der Verfassung verankert wurde, kann an all den genannten Punkten auch nur mit 2/3-Mehrheit wieder etwas geändert werden. Dass dies so schnell bei einer anderen Partei als der Fidesz der Fall sein wird, ist unwahrscheinlich. Und auch die Fidesz selbst kann sich bei den nächsten Wahlen schon mit einer einfachen Mehrheit oder gar einer Koalition zufrieden geben: Die Kontrolle über die Medien wird sie dank parteitreuer Besetzung der Behörde selbst dann noch bis 2020 besitzen.

Großer Tatendrang der Behörde schon am ersten Tag

Dass die Behörde von ihren weit gefassten Rechten Gebrauch macht, zeigte sich bereits am 1. Jänner. Offenbar lange vorbereitet wurde an diesem Tag ein Verfahren gegen Tilós Radio, ein kleiner, ehemaliger Piratensender, "der in alternativen Kreisen Kultstatus genießt", eingeleitet. Vorgeblich deswegen, weil der Song des US-Rappers Ice-T gespielt wurde und dieser einen "jugendgefährdenden" Text enthält. Wenig später wurde ein Verfahren gegen RTL-Club, die ungarische Tochter des RTL-Konzerns, eingeleitet. Beide Fälle stammen aus dem Vorjahr, das Gesetz soll offensichtlich auch rückwirkend Gültigkeit haben. Und ein Journalist beim öffentlich-rechtlichen Radio wurde entlassen, nachdem er in seiner Sendung eine Schweigeminute wegen des Mediengesetzes abgehalten hat.

Völlig zurecht wird daher eine "Vorzensur" bei den betroffenen Medien selbst befürchtet. Um Strafen, die bei keinem Gericht oder einer anderen Stelle als der Medienbehörde selbst beeinsprucht werden können, zu vermeiden, werden sich viele Medien und JournalistInnen lieber selbst an der Nase nehmen.

Nachdem binnen weniger Tage heftige Kritik aus ganz Europa eintraf und EU-Kommissionspräsident Barroso bei einem Besuch in Budapest mahnende Worte ausgesprochen hat, ruderte Orban zuminest verbal zurück. Er kündigte an, Änderungen am Gesetz vorzunehmen, wenn die EU dies für nötig erachte. Nachsatz: Er gehe nicht davon aus, dass dies so sein wird. Das Problem dabei: Bevor die EU das Gesetz prüfen kann, muss es übersetzt werden. Die NMHH hat zwar ebenfalls eine englische Übersetzung auf ihre Webseite gestellt - diese ist jedoch unvollständig. So bleiben bisher nichts als Worte, denen noch keine Taten gefolgt sind. Einzig: Das Verfahren gegen Tilós Radio soll mittlerweile eingestellt worden sein.

Einheitliche Kommunikationslinie Ungarns

Seit mehreren Tagen herrscht nun Ruhe. Zumindest tauchen keine neuen Fälle mehr auf. Die ungarische Regierung hat diese Zeit offensichtlich dazu genutzt, eine einheitliche Kommunikationslinie einzuführen. So war in den letzten Tagen von Orbán, seinem Außenminister oder - wie heute in Wien - von ungarischen Botschaftern und Orbán-Anhängern nur folgendes zu hören:

1.) Ungarn sei Opfer einer Hetze von - wahlweise - Sozialisten/Kommunisten/Paul Lendvai/EU/hysterische Intellektuellen

2.) Jene Kritiker, die nicht in das in Punkt 1 ohnehin sehr breit gefasste Spektrum hineinpassen, haben das Gesetz schlicht nicht vollständig gelesen (was derzeit auch gar nicht möglich ist). Es enthalte nämlich gar keine bedenklichen Passagen, jedenfalls hätten Kritiker bisher nichts konkretes nennen können

Protest-Vernetzung und -Mobilisierung auf Facebook

Jedenfalls möchte sich Orban endlich als EU-Rats-Vorsitzender feiern lassen und die "ärgerliche" Debatte abdrehen. Dass dies nicht gelingt, ist nicht zuletzt einer aufmerksamen internationalen Presse zu verdanken, die wiederum vielfach erst durch Proteste in Ungarn selbst auf die Brisanz der Gesetze aufmerksam gemacht wurde. So wurde bereits im Dezember die ungarische Facebook-Seite Egymillióan a magyar sajtószabadságért ("Eine Million für die ungarische Pressefreiheit") gegründet, die für den 22. Dezember zur ersten Demo rief, die von 1.500 vorwiegend jungen Leuten besucht wurde. Von den selben Leuten wurde auch eine internationale Version der Seite gegründet [und zwischen 17. und 18. Jänner gelöscht, Anmk.], um die Facebook-Weltöffentlichkeit auf die bedenklichen Neuerungen aufmerksam zu machen.

Als am 1. Jänner das neue Mediengesetz inkraft trat und sofort aus fadenscheinigen Gründen ein Verfahren gegen das kleine Tilós Radio eröffnet wurde, startete ich eine deutschsprachige Protestseite: Medien- und Meinungsfreiheit für Ungarn - da sich durch die sofortige Anwendung des Gesetzes eine bedenkliche - und schnelle - Entwicklung abzeichnete, die rasche Reaktionen erfordert. Da mittlerweile in einigen europäischen Ländern bedenklich hohe Verflechtungen von Regierungschefs und Medienkonzernen bestehen - Berlusconi ist nur der Gipfel dieses Zustands - war nicht unbedingt von einem ent- und geschlossenen Vorgehen der EU zu rechnen. Jedenfalls sollte die kritische Öffentlichkeit - nennen wir sie mal Zivilgesellschaft - vorbereitet sein, wenn sie "gebraucht" wird.

Also begann ich - oder besser gesagt "wir" (ich gab im Grunde nur den Startschuss, den Rest erledigt "die Community" von selbst) - diese kritische Öffentlichkeit auf Facebook einzusammeln. Dank Uni- und Anti-Abschiebungs-Protesten bestehen ja mittlerweile schon ganz gut funktionierende Netzwerke/Plattformen zur Mobilisierung. Daraus resultierten längst auch immer dichter werdende persönliche Netzwerke der regelmäßig beteiligten Personen. All dies war die Basis für die neue deutschsprachige Protestseite. Womit auch die von Orbán-Anhängern dogmatisch vorgetragenen Behauptungen, es handle sich bei den AktivistInnen gegen das Mediengesetz (egal ob in Ungarn oder im Ausland) um "ferngesteuerte" Anhänger der ungarischen Sozialisten (oder wem auch immer; die Orban-Fans sind da flexibel) oder gar Marionetten der internationalen Banken und Konzerne (die von Ungarn ja kürzlich mit Sondersteuern belegt wurden), widerlegt sein sollten.

Freilich dauerte es keine paar Stunden, schon wurde auch die ungarische Community in Österreich/Wien auf die Seite aufmerksam. Freilich habe ich ja die neue Seite auch auf der ungarischen und internationalen Facebook-Seite verkündet. Alles andere erledigt sich wie gesagt "von selbst". It's the Community, great!

Schon am 2. Jänner zählte die Seite über 700 "gefällt mir" (oder im alten Duktus: "Fans"). An diesem Tag wurde auf der internationalen Version der ungarischen Protestseite die Demo in Budapest am 14. Jänner angekündigt - und gleichzeitig dazu aufgerufen, in allen europäischen Hauptstädten aus Solidarität ebenfalls Demos zu organisieren. Wie praktisch, dass es in Wien bereits eine entsprechende Seite gibt ;)

Also hab ich auf Facebook einige Kontakte angeschrieben, auf die Solidaritäts-Bitte aus Ungarn hingewiesen und gefragt, ob jemand mit Erfahrung eine Demo organisieren und anmelden würde. Am nächsten Tag fand ich eine Antwort von Sigi Maurer von der ÖH vor, die zwar skeptisch war, ob sich viele Leute zu solch einer Demo mobilisieren ließen, aber nach einer Diskussion der ÖH-Bundesvertretung kam ebendiese zur Übereinstimmung, eine Demo anmelden zu wollen. Jedenfalls sollten noch die Medienrechtsorganisationen, die JournalistInnen-Gewerkschaft und andere potenzielle Unterstützer der Demonstration möglichst mit ins Boot geholt werden. Der Rest der Geschichte ist mehr oder weniger bekannt.

Am Freitag, den 7. Jänner, gab es das OK für die öffentliche Ankündigung der Demonstration. Der Aufruftext war fertig und wurde auf der Facebook-Seite, die mittlerweile über 1.500 UnterstützerInnen zählte, veröffentlicht. Am Montag den 10. Jänner ging eine gemeinsame Presse-Aussendung der Organisatoren (zu diesem Zeitpunkt: ÖH, GPA-djp, Reporter ohne Grenzen, Österreichischer Journalistenclub, Presseclub Concordia, Radio Orange und Amnesty International) hinaus. In den Tagen danach schlossen sich noch weitere Organisationen dem Aufruf an, etwa das International Press Institute und der Österreichische Medienverband.

Bis zum 14. Jänner, dem Tag der Demo in Budapest, der auf Facebook schließlich rund 7.500 Leute ihr Kommen zugesagt haben, erreichte auch die deutschsprachige (Wiener) Protestseite fast 2.000 UnterstützerInnen (zum Vergleich: die ungarische zählte am 14.1. 71.000 "Fans", die internationale Version knapp 2.700), der Wiener Demo-Aufruf rund 470 Zusagen.

Demonstrationen
Foto: Daniel Weber (CC by-nc-sa 2.0)
Einen Tag vor der Demonstration wurde auf Facebook auch für Berlin eine Protestaktion angekündigt. Auf englisch, und mit dem Hinweis, dass es sich um keine angemeldete Aktion handelt, weshalb möglichst Blumen oder ähnliches vor der Botschaft niedergelegt werden sollten. Auch auf polnisch wurde eine Protestaktion angekündigt, vermutlich in Warschau. Näheres ist mir bisher allerdings nicht zu Ohren gekommen, auch keine Übersetzung. Dass in der ungarischen Stadt Pécs (zwei Fotos) demonstriert wird, war hingegen schon seit einigen Tagen bekannt und angekündigt.

In Budapest nahmen schließlich etwa 10.000, die Veranstalter sprechen gar von 15.000, Menschen teil. Eine sehr starke Demonstration, wenngleich der Pester Lloyd etwas relativiert: Der Kossuth-Platz vor dem Parlament wurde nicht gefüllt, der Altersschnitt war (im Gegensatz zur ersten Demo am 22. Dezember) überraschend hoch. Das Programm (Rede- und Musikbeiträge) sei relativ schnell durchgespielt worden, das ganze habe, so der Pester Lloyd, eher wie die Absolvierung eines Pflichtprogramms gewirkt. War es im Grunde ja auch.

In Wien versammelten sich etwa 200 bis 250 Personen vor der ungarischen Botschaft.
Auch hier gab es nur kurze, aber nicht weniger prägnante Redebeiträge. Die Stimmung war gut, das Publikum war sehr vielfältig gemischt. Jung und alt, ÖsterreicherInnen und Auslandsungarn bzw. Austro-Hungaren (falls es dieses Wort überhaupt gibt), Studierende, JournalistInnen, AktivistInnen der teilnehmenden Organisationen und auch eine kleine, aber sehr engagierte und auffällige (einige TeilnehmerInnen trugen Guy Fawkes-Masken, wie sie etwa von den durch die Wikileaks-Affäre bekannt gewordenen NetzaktivistInnen Anonymous getragen werden; es gab eine Piratenflagge sowie ein Freibeuter Sonderblatt der piratischen studentinnen und studenten) Fraktion der Pirat(inn)enpartei - die als einzige politische Gruppierung in Erscheinung trat, was man in Ungarn vermeiden wollte und eigentlich auch in Wien beherzigt wurde.

Aber als Partei, die sich als Kollektiv von NetzaktivistInnen entschieden gegen jede Form von Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit wendet, wodurch sie sich elementar von allen anderen politischen Parteien unterscheidet, halte ich ihre Teilnahme nicht nur für gerechtfertigt sondern auch für höchst erfreulich, erbaulich und lobenswert!

Im Anschluss wurde dem ungarischen Botschafter, der die meiste Zeit vor der Botschaft anwesend war, eine Petition für Medien- und Meinungsfreiheit von Amnesty International überreicht. Unter großem Medieninteresse, einem regelrechten Blitzlichtgewitter, wurden dem Botschafter schließlich mehrere Fragen zu seiner Position gestellt, die er ausführlich, aber pflichtgemäß beantwortete. Für die Menschen hinter den JournalistInnen war dieses Gespräch leider nicht zu hören. Wir warten auf entsprechende Videobeiträge, die wohl im Verlauf des heutigen Tages veröffentlicht werden, und die ich hier in der Linksammlung nachtragen werde.

Aus Pécs wurden übrigens etwa 200 DemonstrantInnen gemeldet, in Berlin sollen 35 Personen demonstriert haben (Quelle: pusztaranger.org). Aus anderen Städten ist (derzeit) nichts bekannt.


Weiterführende Links zu den Demonstrationen

Folgend ausgewählte Berichte kommerzieller Medien sowie eine möglichst umfangreiche Übersicht nicht-kommerzieller Beiträge:

Berichte:
- Martin Juen aus Budapest: Demonstration for free Speech & Press Freedom gegen das neue Mediengesetz | Ungarn
- digitaljournal.zib21.com: Ungarn: Puszta, Paprika, Pressezensur und Protest (eine Zusammenfassung der Ereignisse bis zum 14.1.)
- derstandard.at: Ungarisches Mediengesetz - Facebook-Generation macht mobil
- nochrichten.net: Gemeinsam in Budapest, Wien, Pécs und Berlin für Medienfreiheit in Ungarn
- neuwal.com: "Geben sie Gewissens- und Gedankenfreiheit, Herr Orbán" - Solidaritätskundgebung in Wien
- International Press Institute (IPI) / International Freedom of Expression Exchange (IFEX): Campaigns and Advocacy: IPI, RSF and Austrian Journalists' Union urge Hungarian government to withdraw new media legislation

Fotos
- Martin Juen aus Budapest (flickr-Album)
- Pécsi Napilap: Fotogalerie aus Pécs
- Daniel Weber (flickr-Album)
- AUGE/ug (flickr-Album)
- Daniel Hrncir (Facebook-Album)

Videos / Videoberichte:
- Daniel Hrncir: Aufzeichung des "offiziellen" Livestreams in zwei Teilen (wenig zu sehen, aber Redebeiträge gut zu verstehen)
- Daniel Weber: drei Handy-Livestream-Aufzeichnungen (auf bambuser.com in drei Teilen)
- wienTV.org --> folgt am Dienstag, 18.1.

Audio:
- Cultural Broadcasting Archive (CBA): doku demo: free media in hungary
- CBA: Die Wiener Kundgebung für Medienfreiheit in Ungarn vom 14. Jänner 2011

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