Sonntag, 18. September 2011

Krawallwochenende in Zürich - Stauffacher/Langstrasse, Helvetiaplatz, Central - 16./17. September 2011

Eine Woche nach den RTS-Krawallen am Bellevue vom 10. auf den 11. September (FMO berichtete) kommt es, wie nach dem Aufruf zur neuerlichen Straßenparty in Ketten-SMS seit letztem Sonntag zu befürchten war, erneut zu Krawallen. Dass es gleich drei werden würden, war jedoch nicht abzusehen.

"Polizei verhindert illegale Party am Central" titelt erfreut die Online-Ausgabe des Blick. Dass dafür vermutlich über 1.000 hochgerüstete PolizistInnen eingesetzt werden mussten, massenhaft Tränengas und Gummischrot verschossen wurde, dutzende Personen verletzt wurden, das Herz der Stadt, direkt vor einem der höchst frequentierten Bahnhöfe Europas, zwischen 23:45 und 3 Uhr früh eher einem Schlachtfeld glich, ist natürlich vernachlässigbar angesichts des herausragenden Erfolgs der vereinigten Schweizer Polizeikräfte gegen Jugendliche aus Zürich, die ihre Party nicht anmelden wollten.

Das vergangene Wochenende im Rückblick:

Freitag, 16.9. - Vorverlegte RTS am Helvetiaplatz, Krawalle am Stauffacher

Bereits am Vorabend des Samstags, 17. September, für den gegen 23:30 Uhr zur Party am Central aufgerufen war, versammelten sich rund 200-400 Leute (bei strömendem Regen) bei der Unterführung am Helvetiaplatz um mit eigener Anlage und DJs eine Alternative zum kommerziellen, ruionös teuren, Party-Treiben in den Clubs und Lokalen der Stadt anzubieten.

Die Polizei war nicht uninformiert, hielt sich aber vorerst im Hintergrund und ließ die Party, die ohnehin auf einem für den Verkehr gesperrten Platz stattfand, gewähren. Gegen Mitternacht setzte sich das mobile Soundsystem samt Anhängerschaft Richtung Stauffacher, wo ein Haus (zur Sauvage, also zum weiterfeiern) besetzt werden sollte, in Bewegung. Die Polizei versperrte jedoch den Platz. Als die Demonstrierenden über eine Seitenstraße ausweichen wollten, wurden sie umgehend mit Gummischrot und Tränengas eingedeckt, der Wasserwerfer wurde eingesetzt. Die Angegriffenen schleuderten Flaschen und andere Gegenstände zurück, zerstreute sich, formierte sich aber bald unweit der Langstrasse (Ausgehmeile und Zentrum zweier ehemaliger ArbeiterInnen-Bezirke, heute mehrheitlich von MigrantInnen bewohnt) wieder.

Tanzend zog die Menge nun in die Langstrasse, wo zahlreiche Schaulustige auf die Straßen strömten - die Polizei hielt sich zurück, zumal die Polizei in dem Quartier keinen guten Ruf genießt. Eine eigene Kampagne der Polizei kümmerte sich letztes Jahr darum, die Straßen "sauber" zu halten - gemeint sind willkürliche Kontrollen an Passanten "mit Migrationshintergrund", wie man "so schön" sagt.

Als die Demo schließlich in die Militärstrasse einbog um Richtung Kasernen-Areal (ehemalige Kaserne) zu ziehen, kam es vor dem dort gelegenen Polizeiposten zur finalen Auseinandersetzung: die Polizei setzte die üblichen Waffen ein, während DemonstrantInnen Müllcontainer und anderes Zeugs auf die Straßen warfen und anzündeten. Zwischen 2 und 3 Uhr waren die Krawalle beendet.

Samstag, 17.9. - Krawalle am Rande von Anti-Abtreibungs-Demo christlicher Fundis

Die Polizei verhinderte am Nachmittag unter großer Gewaltanwendung, dass die vom Revolutionären Bündnis Zürich getragene Gegendemo zur Anti-Abtreibungs-Demo durchbrechen konnte. Protestierende lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Alles weitere im Tages-Anzeiger, andere Infos liegen leider nicht vor.

Samstag, 17.9. - Reclaim the Streets am Central fällt Polizeiblockade zum Opfer - trotzdem Krawalle

Eigentlich hätten sich um 23:30 Uhr hunderte, wenn nicht tausende, Menschen zur RTS am Central treffen sollen. Doch zum einen regnete es erneut teils heftig, zum anderen glich das Zürcher Stadtzentrum einem Sperrgebiet. Das gesamte Areal zwischen Stampfenbachstrasse, Niederdorf, Hauptbahnhof und Bahnhofstrasse war von hunderten PolizistInnen besetzt - die sich jedoch zunächst in Seitenstrassen "versteckten". Laut Augenzeugen waren die in der Bahnhofshalle eingesetzten Cops eigens aus der französischsprachigen Schweiz zugezogen worden. Über die Zahl der eingesetzten Beamten gibt die Zürcher Polizei allerdings nie Auskunft.

Im Hauptbahnhof hatten sich bereits hunderte Menschen versammelt. Als sich mehrere Personen vermummten griff die Polizei das erste Mal ein: Festnahmen.

Die Menge zog zum Central und wurde durchgelassen. Doch bevor dort die Party losgehen konnte wurde binnen weniger Minuten ein Kessel erzeugt - die ersten Böller wurden Richtung Polizei geworfen und es passiert, was in so einem Fall in Zürich immer passiert: Gummischrot, Tränengas, Pfefferspray, Wasserwerfer ... Zusätzlich waren viele Polizisten in zivil eingesetzt, einige auch als sogenannte "Chaoten-Zivis", die aussehen sollen wie autonome Demonstranten (Rucksack, Kapuzenpulli etc.) und als "Greifer" Leute aus der Menge ziehen (ähnliche Bilder kennt man etwa aus Barcelona, wo im Umfeld der friedlichen Massenproteste am 15. Juni d.J. einige eingeschleuste Provokateure entlarvt und vertrieben wurden). Auch aus Zürich gibt es Videos von optisch möglichst angepassten Zivi-Cops, die Leute aus der Menge heraus verhaften, wie etwa regelmäßig am 1. Mai. Das treibt dann mitunter auch skurrile "Blüten", wie etwa dieses Video zeigt.

Mit Gewaltorgie zum Orgasmus? StaPo testet ihre neueste Lustinnovation.

Erneut kamen bei der Gewaltorgie der Polizei viele Unbeteiligte zum Handkuss: Diesmal wurde gleich das ganze Areal um den Hauptbahnhof in Trängengas gehüllt, im unterirdischen "Shopville", das unter dem Hauptbahnhof als Verbindung zur Bahnhofstrasse sowie als Shoppingcenter dient, hingen ebenfalls Schwaden von Tränengas. Oberirdisch wurden die rund 500 bis 700 Partywilligen zum Hauptbahnhof zurückgetrieben (sogar im Tages-Anzeiger steht im Bildtext: "Die Polizei trieb die Menge erst zum Central, anschliessend wieder zurück zum Hauptbahnhof."), in dessen Umgebung sich die Krawalle nun abspielten. Auch in der Altstadt, dem Niederdorf, soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Berichte darüber liegen (noch) keine vor.

Vom Hirschengraben über dem Central aus, das in einen Hang hineinreicht, wurde die Polizei mit Gegenständen und Baumaterial beworfen. Der Wasserwerfer, der sich nahe der den Hang abstützenden Mauer befand, wurde aus knapp 10 Metern Höhe mit kiloschweren Steinplatten beworfen - das Fahrzeug blieb unverletzt.

Der Weg zur Bahnhofstrasse - als teuerste Einkaufsstrasse der Schweiz auch das beliebteste Riot-Areal - wurde von einem Wasserwerfer versperrt. Also tobten sich einige an der Tram-Haltestelle Hauptbahnhof aus, zerstörten die Glasflächen, zündeten Zeitungsständer an, randalierten.

Weitere Angriffe der aufgebrachten Jugendlichen richteten sich gegen ein "ziviles" Polizeifahrzeug (die VW-Bus-Flotte der Zürcher Polizei, die für das Stadtbild prägend ist, ist in den Farbcodes blau, weiß und grau, sind - bis auf ein einziges, abnehmbares Blaulicht am Dach, von außen nicht als Polizeifahrzeuge zu erkennen), welches kurzerhand umgeschmissen wurde (Bilder davon finden sich auf 20min.ch und blick.ch, die freilich nicht von einem Polizeifahrzeug schreiben; nur der Tages-Anzeiger erkennt das Polizeifahrzeug, wie die Bildbeschreibung verrät).

Laut Tages-Anzeiger dauerten die Krawalle bis zumindest drei Uhr früh an, auch danach soll es noch vereinzelt Zwischenfälle gegeben haben. Dass der Versuch, die erschienene Menschenmenge in "Gaffer" und "Chaoten" zu spalten, nicht besonders hilfreich ist, da der Übergang mitunter ein fließender ist, zeigt eine Bemerkung im Tages-Anzeiger-Artikel: "Die Unruhestifter dürften die gleichen gewesen sein wie vergangene Woche, waren jedoch überraschend zahlreich. Die Gaffer glichen weniger den jungen Partygängern von letzter Woche als jenem Publikum, das man normalerweise am 1. Mai antrifft."

Gebt der Zürcher Polizei ein Gummi-MG!

Besonders hässliche Szenen soll es zwischen Hauptbahnhof, Limmatufer und Platzspitz gegeben haben, wo gegen Ende der Krawalle noch ein beliebig wirkender Kessel aufgezogen wurde und die darin gefangenen Menschen mit heftigen Salven aus Gummischrot in die Enge getrieben wurden - laut Augenzeugen waren kaum "Randalierer" oder "Chaoten" darunter, sondern "Gaffer" (Schaulustige) und Nachtschwärmer, die nicht wussten, wie ihnen geschah (Bild 14 in der Tages-Anzeiger Fotoreihe). Mögliches Motiv: Nach nur zwei (!) Verhaftungen am letzten Samstag sucht die Polizei nun (wie schon öfter in der Vergangenheit) durch willkürliche Verhaftungen dem Erfolgsdruck der Opposition und der gesamten Presse gerecht zu werden. Dass dabei jedes Mal dutzende, wenn nicht Hunderte, Zivilisten auf verschiedene Weise direkt mit Polizeigewalt konfrontiert werden, was im besten Fall von vertränten Augen bis - im schlechtesten Fall - gebrochener Nase durch Gummischrot reicht, scheint niemanden zu stören.

öffentliche Meinung - who cares?

Von Verletzten ist wie fast immer in den Medien nichts zu lesen - es müssen einige Dutzend gewesen sein an diesem Wochenende, viele mit blutverschmierten Gesichtern wegen des Gummischrots. Aber auch das ist Teil des perversen Spiels von Polizei, Politik und Medien, das in Zürich schon in den 80er-Jahren gespielt wurde und offenbar auch im Internetzeitalter noch erstaunlich und unwidersprochen gut funktioniert. Die Polizei schießt lieber aus der Distanz, die Leute laufen davon, die Medien schreiben die Presseaussendungen der Polizei ab, statt sich in Krankenhäusern nach den tatsächlichen Verletztenzahlen zu erkundigen (sie würden wohl staunen). Die (rotgrüne) Stadtregierung gibt sich besorgt über Gerüchte von Polizeigewalt, was von der rechten Opposition umso stärker kritisiert wird, da die Polizei selbst das größte Opfer sei und dringen mehr Geld und Personal benötige. Die so jedes Mal aufs neue für dumm verkaufte Öffentlichkeit weiß auch nicht mehr was sie glauben soll - dabei haben sie ohnehin immer nur die selbe Lüge erklärt bekommen. Weder auf Indymedia noch auf Twitter oder in eigenen Blogs bzw. Videoplattformen macht die linke Szene auf derartige Missstände aufmerksam. Hier klafft ein großes Loch, das beispielsweise in Wien (wohl insbesondere seit den Massenprotesten gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000, bei denen Mailverteiler eine sehr wichtige Rolle gespielt und somit wohl das Internetzeitalter in der "Zivilgesellschaft" miteingeleitet haben) durch autonome Blogs und Portale wie WienTV.org, nochrichten.net, ichmachpolitik.at, no-racism.net, Indymedia sowie diverse Fotografen (was natürlich immer wieder zu Konflikten führt, andererseits besteht zu den aktivsten meist eine gute vertrauensbasis hinsichtlich Gesichter-nicht-erkennung), die ihre Fotoalben auf flickr oder eigene Blogs stellen, gefüllt wird.

Der Kampf um die öffentliche Meinung wird in Zürich vermutlich von vielen als aussichtslos betrachtet, nur hin und wider finden sich (in der Regel anonyme) Aussendungen auf Indymedia. Andererseits gibt man so der Polizei keinerlei Angriffsfläche, wodurch diese sich nach jedem Krawall wieder splitternackt den Medien und der (rechten) Opposition stellen und den Vorwurf gefallen lassen muss, komplett ahnungslos zu sein - was auch seine Reize hat. Alternative, unabhängige Medienschaffende, zu denen ein Vertrauensverhältnis (insbesondere was den Schutz der Anonymität der AktivistInnen betrifft) besteht und die ohne Verfolgungsdruck Meldungen veröffentlichen können, die Dinge beschreiben, die nur Anwesende gesehen haben können, könnten die Anonymität der AktivistInnen gewährleisten und durch Dokumentation und Veröffentlichung von Polizeigewalt via (etablierter) Medien (die zumindest in größeren Fällen oder bei spektakulären Aufnahmen auf den Zug aufspringen) und einer informiert(er)en Öffentlichkeit Druck auf die Polizei ausüben. Die Polizei wird aus Steuergeldern informiert und es das gute Recht eines jeden, ihr bei der Arbeit gründlich auf die Finger zu schauen.

weitere Links (Auswahl):
-
videoportal.sf.tv: Kurzbericht des Schweizer Fernsehens (das gleiche Video, es handelt sich offenbar um Agenturmaterial (das erklärt auch, warum SF nur 50 Sekunden lang berichtet und das ganze abrupt abwürigt), findet sich unkommentiert auch auf orf.at)
- rjz.ch - Revolutionäre Jugend Zürich: Fight for your Right to Party!
- linksunten.indymedia.org: (Jugend) Unruhen in Zürich (Schweiz)?

Dienstag, 13. September 2011

TierschützerInnen des VGT blockieren Landwirtschaftsministerium

Seit Montag, 12. September, 6 Uhr früh, blockieren 30 bis 40 AktivistInnen des VGT (Verein gegen Tierfabriken) alle Zugänge zum "Lebensministerium", so die Eigendefinition des Landwirtschaftsministeriums, am Stubenring 1. Entgegen voreiliger Meldungen sämtlicher (!) Medien, die schon am frühen Abend die Auflösung der Blockade verkündeten, was bis dato noch nirgends korrigiert wurde, obwohl weiterhin rund 30 Personen vor dem Landwirtschaftsministerium ausharren, wie ein Redakteur von WienTV.org, der vor Ort mit den BesetzerInnen ausharrt, ausrichten lässt (Stand: 13.9., 4 Uhr). Auch LeserInnen-Kommentare, etwa auf derstandard.at, die ebenfalls bezeugen, dass die Blockade nicht aufgelöst wurde, veranlassen keinen Journalisten und keine Journalistin in Österreich zur Änderung der Artikel.

Räumungsversuch scheitert - Blockade überdauert Nacht

Die Polizei hat den Versuch, die Blockade am Nachmittag mit 50 bis 100 WEGA-BeamtInnen aufzulösen, nach einigen Personen abgebrochen (was der ORF-Redakteur offenbar nicht mehr erlebt hat). Ein Seitentor konnte dabei befreit werden, die Feuerwehr installierte einen Holzbanken, um die neuerliche Schließung des Tores zu verhindern. Die übrigen, insbesondere das Haupteingangstor, ist weiterhin mit angeketteten Menschen blockiert. Um den gesamten Eingangsbereich hat die Polizei Sperrgitter aufgebaut, die AktivistInnen befinden sich teils innerhalb (u.a. die Angeketteten), teils außerhalb der Absperrung.

sämtliche Versuche von Polizei und Feuerwehr, die Angeketteten vom Haupttor zu entfernen, scheitern, die Blockade dauert die ganze Nacht über an (Fotos: (c) Martin Juen (oben), VGT (unten))


Die Stimmung unter den BlockiererInnen wird als friedlich und gut beschrieben. Mit einem neuerlichen Räumungsversuch wird vermutlich mit Beginn der Bürozeiten zu rechnen sein.

die einzige kriminelle Organisation ist der Staat ...

Der Protest der TierschützerInnen des VGT, die in den letzten Jahren vor allem aufgrund des aufsehenerregenden Prozesses nach § 278a, dem sogenannten "Mafia-Paragrafen", als "kriminelle Organisation" angeklagt waren und erst vor wenigen Monaten in allen Punkten frei gesprochen wurden. Ihre Existenzen wurden durch die monatelange U-Haft, spektakuläre Razzien inklusive Beschlagnahme von Computern und anderem Privateigentum sowie hohe Gerichtsgebühren und Prozesskosten über mehrere Jahre nahezu vernichtet.

Mit der Kampagne gegen Kastenstandhaltung in der Schweinezucht in Österreich, die seit einigen Wochen läuft und mit einem im Kastenstand eingesperrten VGT-Obmann Martin Balluch bereits Medienaufmerksamkeit erlangte, zeigen die TierschützerInnen, dass sie sich trotz, und wohl auch gerade wegen der großen Bemühungen, sie mundtot zu machen, nicht von ihren Bestrebungen für ein besseres Leben von Mensch und Tier im Einklang mit der Natur nicht abbringen lassen wollen.

Dass ausgerechnet die sich "Lebensministerium" nennende zuständige Behörde diesen Forderungen mit Verweis auf die Gewinnspannen der 8.000 österreichischen Schweinemastbetriebe nichts abgewinnen kann, sollte eigentlich überraschen. Tut es aber nicht. Wir sind gewohnt, dass Profitinteressen einzelner über das Allgemeinwohl gestellt werden. Eine nicht nur schlechte, sondern auch kontraproduktive Angewohnheit.

weiterlesen:
- VGT.at: Landwirtschaftsministerium blockiert weil Kastenstandverbot verweigert
- VGT.at: Weiter Tierschutzblockade: Landwirtschaftsministerium seit 7 Stunden geschlossen
- VGT.at: Seit 10 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: JETZT: Polizei räumt Tierschutz-Blockade des Landwirtschaftsministeriums
- VGT.at: 14 1/2 Stunden Blockade des Landwirtschaftsministerium nicht gebrochen

weitere Fotos:
- Martin Juen: VGT blockiert Lebensministerium | Wien 12.09.2011

Sonntag, 11. September 2011

Keine Party ist illegal! - RTS am Bellevue endet in Krawallen

[letztes Update: 12. September, 18:30 Uhr]
(Illustration: M. Shlesinger)
[Einschub: Aufgrund der unvermittelten und massiven Gewaltanwendung durch die Polizei (es gab zahlreiche, teils im Gesicht durch Gummischrot (aus nächster Nähe) schwer verletzte, vielfach unbeteiligte Personen) wird bereits die nächste Party in der Innenstadt angekündigt - Medien und Polizei haben bereits von der neuerlichen SMS Wind bekommen. Sie soll nächsten Samstag, 17. September, ab 23:30 Uhr am Central stattfinden! Als "Zeichen, dass auch wir unsere Freiheit haben und uns dafür einsetzen."]

Am Samstag, 10. September 2011, versammeln sich in Zürich
gegen 23 Uhr (Indymedia) über 1.000 Jugendliche (Foto 1, Foto 2) nach Aufruf auf Indymedia (10.9.11 keine Party ist Illegal (RTS)) sowie in SMS-Ketten zu einem Reclaim the Streets am zentralen Bellevue (Foto). "Reclaim the Streets" ist eine urbane Aktionsform, bei der sich Menschen meist zum Anlass einer Party (kurzfristig und eingeschränkt öffentlich angekündigt) den öffentlichen Raum aneignen. Die Idee ist an und für sich friedlich, jedoch kommt es bei Auflösungsversuchen der Polizei gelegentlich zu Ausschreitungen. Auch beim letzten Reclaim the Streets in Zürich (6. Februar 2010, Video) gab es bereits Ausschreitungen, nachdem die Polizei wie gewohnt unmittelbar mit Gummischrot (Video von überraschten Touristinnen ;)) auf die Menge losgegangen sein dürfte.

Dieses Mal soll die Auflösung einer Party (mit Gummischrot in die tanzende Menge) unter der Duttweilerbrücke am 15. Juli sowie die Auflösung einer illegalen Party in einem Wald bei Zürich unmittelbare Auslöser für ein RTS gewesen sein. Auch die "Polizei und Justiz Parade" am Gelände des alten Güterbahnhofs (der durch ein "Polizei- und Justizzentrum" ersetzt werden soll), einer unkommerziellen Gegenveranstaltung zum kommerziellen Massenrave "Streetparade", am 13. August 2011, wurde von der Polizei aufgelöst. Gewaltanwendung gab es hier keine, da die Party vor vollständigem Eintreffen der Riot Police nach drinnen verlegt wurde. Auf Indymedia wird die RTS rund zehn Stunden zuvor angekündigt (vermutlich von anderen und nach dem ersten SMS):

"Da der Staat tag für tag uns in unseren Freiräumen einschränkt und uns jegliches selbstbestimmtes leben nimmt, wollen wir ein zeichen setzten! Gegen Repression und für ein freiwählbares Leben!
ausserdem ist morgen der 11 sept...der tag der schleichenden repression!seit diesem tag werden wir überall bewacht geschnitten und gelenkt!!!wir sind der überzeugung 9/11 was a inside job!!!und diente dem machtapparat einzig und allein zur unterdrückung unserer freiheit und der verstärkung ihrer macht!!!

Genauer Ort: Geheim....da wir ja auch ein wenig party wollen und nicht von beginn weg mit den uniformen tanzen wollen! wer will findet es sicher...fragt rum in der statd!!!für musik pyro und rauch ist gesorgt....nehmt alles mit was es für eine gute party braucht!!!gerne auch Transpis...(haben schon welche aber je mehr desto besser)...alles was laut ist ist toll!!!!megaphone...blockrockers sonstige musikgeräte/instrumente!!!
vorderhand wird es eine platzkundgebung...bei genügen leuten motivation und stimmung kann es auch zu einer demo durch die statd ausgebaut werden!!!

ACAB"

FMO liegt mittlerweile auch der Originaltext jener SMS vor, die zu "Rache" aufruft:
"Hey zäme!
Willt stapo ois alti party gstürmt het gits jetzt e rache aktion zmits am bellevue.
E fetti party (mier zapfed d'vbz lutsprecher ah un pflanzed en fette verstärcher ufs dach und denn wird grockt)
Es chömed ca 500lüt segets allne witer wo iehr kenned und mieer werded 1000 grenze knacke odr no meh!
Bis denn
Samstig 10 sept. Am punkt 11i am bellevue.
Vepasseds ned!
Shicked das sms wiiter un ja nix uf facebook."

"Freundliche Bitte" der Polizei: Sag's mit Gummischrot!

Die Polizei dient den Medien als einzige "vertrauenswürdige" Quelle und ihr Pressesprecher sieht die Ereignisse so:
"Als rund 20 Leute auf ein Glasdach stiegen, mussten wir jedoch reagieren, weil die Leute sich selbst gefährdeten. Es herrschte akute Einsturzgefahr und die Menschen befanden sich in unmittelbarer Nähe einer Fahrleitung. Wir sprachen mit den Leuten und wiesen sie an, vom Dach herunterzusteigen. Das klappte im ersten Moment recht gut. Urplötzlich schlug die Stimmung jedoch um. Aus der Masse traten die Randalierer, welche die Polizisten massiv mit Pflastersteinen und anderen Gegenständen attackierten. Die Polizei musste deshalb reagieren. Von den einzelnen gewalttätigen Chaoten liessen sich später offenbar andere anstecken."
(Michael Wirz, Pressesprecher der Stadtpolizei, tagesanzeiger.ch)
(Foto: Indymedia Schweiz)
Fast schon als kritische Reflexion kann man daher den "Tagi"-Artikel vom Montag betrachten, der sich "Wie wird man zum Chaoten?" nennt. In der ersten Presseaussendung der Polizei war sogar von "herunterbitten" der Leute vom Haltestellen-Dach die Rede, sämtliche Zeitungsberichte (NZZ, Tagesanzeiger, 20 Minuten) haben diese Formulierung übernommen. Wie nahe die auf dem Dach Befindlichen tatsächlich an den Stromleitungen waren, zeigt nebenstehendes Bild (Foto: ch.Indymedia).

Zur fadenscheinigen, vorgeschobenen Behauptung, Sicherheitsbedenken seien der Grund für das Einschreiten, hat ein Zürcher Facebook-User folgenden Bildvergleich beizutragen:

(Illustration: T. Cassee, Facebook)

Partygästen und Augenzeugen sehen die Ausgangssituation in Online-Kommentaren übereinstimmend anders, auch der Darstellung der Polizei (und dadurch den Medien), erst gegen Mitternacht eingeschritten zu haben, wird deutlich widersprochen:
"Die starken Bilder sind allesamt entstanden, als die Situation schon lange eskaliert war. Darum spricht die Polizei wahrscheinlich auch davon, dass sie erst gegen Mitternacht eingreifen mussten. Tatsache ist, dass die Polizei unmittelbar nach 23 Uhr voll gegen alle Anwesenden vorgegangen ist und Panik provozierte. Zeigen Sie die Bilder zwischen 23:00 und 23:45!" (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)
"So schön kann die simple Welt sein. Hier die Chaoten, dort die rettende Polizei. In der realen Welt war das Bellevue auch mit Touristen und normalen Passanten bevölkert. Auf diese ging die Polizei gleichermassen mit Gummischrot und Tränengaspetarden los. Alles in allem eine sehr unschöne Geschichte, die dringend restlos geklärt werden muss." (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)
"Wenn "konsequent defensiv" bedeutet wir stürmen eine friedliche Party, schiessen auf alles was sich bewegt und decken einen ganzen Banhof mit Tränengas ein, dann will ich ja nicht wissen was den offensiv wäre. Zudem bleibt die Frage, wieso die Polizei die Menschen auf dem Dach in Vollmontur, drohend mit Pfefferspray und Gummischrot, herunter holen musste und nicht das Gespräch suchte?" (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)

"Wenn die Polizei meint sie müsse eine friedliche Party (unter der Hardbrücke und im Wald nahe beim Zoo) bekämpfen, dann ist irgendwas nicht richtig! Vlt. war das ein Weckruf an die stadtzürcher Regierung endlich mal vernünftig zu handeln und den gesunden Menschenverstand walte zu lassen (nicht einfach blind nach irgendwelchen Gesetzten zu handeln). Die Party im Wald war friedlich bis die Polizei ohne jeglichen Grund kommt, nur weil irgend ein dämliches Gesetzt dies vorschreibt." (Kommentar auf 20min.ch)

"Wir sind um 0:20 mit dem Zug durch den Bahnhof Stadelhofen gefahren und es sind einige ältere Personen mit stark gereizter Haut und tränenden Augen zugestiegen. Ich stelle fest, dass die Stapo Dealer in der Langstrasse freundlich bittet und wenn ordentliche Bürger mal etwas feiern, dann gibt's Tränengas (in meinem Fall während der Euro 2008). Was ich bisher lese, so scheint mir eine geordnete Untersuchung angebracht. Die Verhältnismässigkeit der Mittel scheint mir nicht gewahrt. Hätten geziehlte Festnahmen nicht gereicht? Warum wurde eine Massenpanik riskiert?" (Kommentar auf 20min.ch)
"Also erstens finde ich das ALLE die nicht da waren hier einfach nichts zu sagen haben. Dann es war Gewaltbereitschaft beiderseits und die ''Randalierer'' haben viel zerstört aber auch die Polizei war total unkontroliert, sie haben mit der Zeit angefangen ziellos über die Häuser am Belevue richtung Bhf. Stadelhofen zu feuern. Ich habe leute gesehen die auf ihren Zug gewartet haben die sogar über der 60 waren die Tränten weil das ganze Gebiet so eingenebelt war, sowas ist auch einfach nur noch Peinlich wenn so ein gegenschlag ziellos und unnüberlegt ausgeführt wird. sowas Ist auch traurig." (Kommentar auf 20min.ch)

Ablehnende, kritische Kommentare gegenüber den RandaliererInnen und Forderungen nach mehr Polizei und härterem Durchgreifen sowie reine Beschimpfungen gibt es natürlich auch jede Menge. Eines der interessanteren Statements daraus ist noch dieses:

"Diese "Rache-Party" war eine nachlässig kaschierte, verspätete 1.Mai-Nachdemo. Das ahnungslose Partyvolk wurde per SMS zu einem angeblich coolen Event gelockt. Wieso packt dann aber der zufällig anwesende schwarze Block die Vollmontur aus den Rucksäcken? Gehören Skibrille & Co. zur Standardausrüstung an einem lauen Zürcher Sommerabend? Die Linksextremen versuchen, neue junge Fans zu rekrutieren." (Kommentar auf tagesanzeiger.ch)

Die Zahl der übereinstimmenden bzw. zusammenpassenden Kommentare über den Hergang der Ausschreitungen sprechen für sich - und gegen die (natürlich) einseitige Darstellung der Polizei (die aber genauso "natürlich" von den ahnungs- und quellenlosen Medien übernommen werden). Die Polizei dürfte - zum wiederholten Male - ohne lang rumzufuchteln mit Bereitstehen der gerüsteten Einheiten Gummischrot schießend gegen die Menge vorgeprescht sein. Eine vorhersehbare Handlung der Polizei, auf die zahlreiche BesucherInnen dieses Mal besser vorbereitet waren als etwa bei der Auflösung der "Polizei- und Justiz-Parade" unter dem Bahnhof Hardbrücke, am Gelände des alten Güterbahnhofs, wo auch die Autonome Schule Zürich (ASZ) einquartiert ist. Die widerstandslose Verlegung der Party in die ASZ wurde von Teilen der autonomen Szene kritisiert. In einer Ende August erschienenen Publikation der autonomen Szene ist vermerkt: "13.8 Sauvage unter Hardbrücke, Auflösung durch blosse Androhung: So geht das nicht! Das perfekte Riot-Areal, und nicht mal der Versuch Widerstand zu leisten..." - daneben ist vermerkt: "SAUVAGE KOMMT VON WILD ... UND WIR SOLLTEN DIESEM NAMEN MAL WIEDER ALLE EHRE MACHEN!!!"

Dies sowie die Aufösung einer Freeparty in einem Wald bei Zürich vor kurzem sollen laut Medien, die sich auf Hinweise von Informanten und SMS-Ketten beziehen, die Motive für diese spontan angekündigte Sauvage am Bellevue gewesen sein.

Letztlich gab es acht verletzte PolizistInnen, zwei Verhaftungen und eine nicht bekannte Zahl verletzter DemonstrantInnen, darunter laut AugenzeugInnen eine bewusstlose Frau und Jugendliche mit Verletzungen im Gesicht bzw. am Kopf durch die Gummigeschoße. In der Umgebung des Bellvue, etwa am Vorplatz des Bahnhof Stadelhofen, wurden Müllcontainer und Barrikaden angezündet, PolizistInnen mit Gegenständen beworfen, Pyrotechnik gezündet - die Polizei setzte neben Gummigeschoßen auch Reizgas ein. In Zeitungs-Foren wird berichtet, dass Schwaden von Reizgas in den unterirdischen Gängen des Bahnhofs hingen, zahlreiche wartende Passagiere, darunter auch PensionistInnen, flüchteten mit tränenverzerrten Gesichtern in die S-Bahnen (Foto: Tränengas-Schwaden über Bahnhof Stadelhofen). Die Auseinandersetzungen daurten laut Polizei und Medien bis 1 Uhr, laut Indymedia bis 2 Uhr an.





weitere Videos auf 20min.ch

Zürich ist anders

Zürich ist anders. In vielerlei Hinsicht. Das meiste lässt sich direkt oder indirekt auf Geld zurückführen.

- Einkommen, das zwar im Schnitt doppelt so hoch ist wie in Österreich, aber trotzdem zu mehr als der Hälfte den Immobilienbesitzern in den Rachen geworfen werden muss (städtischer Wohnbau und Genossenschaften machen gemeinsam nur 25 % des Wohnungsangebotes aus, während dieser Wert in Wien bei rund 65 % liegt) Wegen der hohen Löhne gibt es generell deutlich höhere Lebenshaltungskosten als in Österreich. In grenznahen Regionen (auch Zürich ist nur eine Stunde von der deutschen Grenze entfernt) liegt Shopping-Tourismus im Trend: Alle ein oder zwei Wochen mit dem Auto zum Großeinkauf in das Einkaufszentrum von Landshut, Bayern, das ist vor allem bei Familien weit verbreitet, die für ihre Kinder viel berappen müssen und dabei nur wenig Zuschüsse vom Staat erwarten können.

- Geld, das den öffentlichen Haushalten aufgrund des "Steuerwettbewerbs" zwischen den Kantonen fehlt, weshalb beispielsweise die Polizei zu wenig Personal (freilich liegt "zu wenig" im Auge des Betrachters, in diesem Fall eben jenem der "Gesetzeshüter", die illegale Versammlungen aufzulösen haben) hat, um in Fußballstadien (wie in Deutschland oder Österreich üblich) für Sicherheit zu sorgen. Stattdessen ist dies eine Angelenheit großer privater Sicherheitsdienste. Die sorgen dann für eine gute Stimmung am Stadionengang und enden in einem Desaster für die Polizei (Stadion Letzigrund, Zürich, 11. Mai 2011). Auch bei anderen Großanlässen, nicht nur am 1. Mai, stellt sich die Zürcher Polizei meist in klarer Unterzahl der Konfrontation mit gewaltbereiten Jugendlichen.

Jugend flieht vor finanzieller Ausbeutung in illegale Partszene

Die Folgen dieser unterschiedlichen "Grundkonstanten" äußern sich auf der Seite der Bevölkerung dadurch, dass in Zürich seit Jahren eine illegale Partyszene blüht - denn die Clubs der Stadt kosten durchwegs ab 20, 25 Franken (mind. 15-20 Euro) aufwärts, Konzerte kosten häufig doppelt so viel und in Bars und Lokalen zahlt man umgerechnet 6 Euro für ein großes Bier und kriegt dann doch nur 0,4 Liter. Drinks und Cocktails kosten im Schnitt ab 10 Euro aufwärts. Das ist dann auch für gut verdienende Schweizer, zu denen SchülerInnen, StudentInnen aber auch Lehrlinge ohnehin nicht gehören, keine Kleinigkeit mehr. Viele Jugendliche sind daher Teil jener SMS-Ketten, die illegale Goa-, Minimal-Techno und House-Partys in den umliegenden Wäldern ankündigen. Diese finden zwischen Frühling und Herbst häufig an beiden Tagen des Wochenendes statt, manchmal auch mehrere in der gleichen Nacht.

Squats fester Bestandteil der Subkultur

Eine weitere Folge der Zürcher Grundkonstanten "hohe Miete, teure Partys, teures Leben" ist eine lebendige HausbesetzerInnen-Bewegung, die sich in den 70er- und 80er-Jahren heftige Kämpfe mit der rücksichts- und kompromisslosen Polizei geliefert hat, bevor die seit Jahrzehnten regierende bürgerlich-liberale Stadtregierung 1989 nach einer neuen Rekordwelle an Hausbesetzungen im laufenden Jahr, schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Räumungen oft aufwändig und gefährlich verbarrikadierter Häuser sowie einem Toten (beim unmittelbar auf eine Räumung folgenden Abriss starb der im Haus befindliche Architekt) die Notbremse zog und nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Kosten im Polizeiressort Hausbesetzungen teilliberalisierte. Eine Verordnung besagt seither, dass die Polizei besetzte Häuser nur dann räumt, wenn außer der Anzeige durch den Besitzer zwingend auch ein Baubescheid, Abbruchbescheid oder Mietvertrag vorliegt. Bei den Wahlen ein halbes Jahr später wurde die Regierung durch eine neue Koalition aus Rot-Grün abgelöst. Diese hält bis heute an, die liberale Räumungspraxis wurde festgeschrieben, wird fortgeführt und aufgrund ihrer "Bewährung" (Stadtrat) beibehalten. Seit mehreren Jahren sind - mit wechselnden Adressen - durchgehend 15 bis 20 Häuser besetzt und bewohnt.

Weniger Polizei, dafür brutaler

Auf Seiten der Polizei äußert sich der Umstand, personell mit eingeschränkten Ressourcen und meist in der Unterzahl agieren zu müssen, in "besserer", sprich: härterer Ausrüstung. So gehören Gummischrotgewehre neben Rüstung und Schildern zur Standardausrüstung eines jeden Polizeifahrzeuges. Diese werden bei Einsätzen auch rasch eingesetzt, um die numerische Unterlegenheit auszugleichen. Und so zeigt man sich bei illegalen Versammlungen selten kompromissbereit, das Gummischrotgewehr ist schnell bei der Hand, mit Reizgas kann man gut nachsetzen, und wer ihnen zu nahe kommt wird geknüppelt und wenn möglich eingebuchtet. Der Wasserwerfer ist eigentlich auch immer dabei, weshalb das Zürcher Demonstrationspublikum ein hohes Tempo gewohnt ist und der Wasserwerfer seinem Einsatz hinterher hinkt.

Dazu muss man wissen, dass in Zürich eine Versammlung von der Polizei genehmigt (erlaubt), nicht nur angemeldet werden muss. Die Folge: Angemeldete Demonstrationen werden häufiger verboten als etwa in Wien, weshalb viele Demonstrationen gar nicht erst angemeldet werden. ia SMS-Ketten organisierte Spontandemos finden häufiger statt und erreichen erstaunliche Teilnehmerzahlen, wie nicht nur das jüngste Reclaim the Streets gezeigt hat. Einmal mehr zeigt sich hier, wie wichtig Party als politisches Ausdrucksmittel der Jugend sein kann, wenn Party und Protest nicht als Widersprüche betrachtet werden und somit "unpolitisierte" Nicht-Szene-Mitglieder von vornherein von Aktionen ausschließen.

Reclaim the Streets auch in Wien denkbar?

Auf Wien umgelegt wäre ein Reclaim the Streets durch die organisierte Freetekno-Szene mit ihren SMS-Verteilern denkbar, doch diese hat grundsätzlich kein Interesse auf Konfrontation mit der Polizei, man will nur in Ruhe feiern. Würde die Polizei im Raum Wien jedoch eine rücksichtslosere Schiene einschlagen und Partys gewaltsam auflösen, wäre ein derartiges Szenario auch hierzulande denkbar. Szenarien wie dieses in der Area 51, 2003 in Wien, könnten dann rasch eskalieren. Ab 2013 steht unsere Gesellschaftsordnung ohnehin neu zur Disposition, eine Machtbeteiligung der FPÖ scheint sehr wahrscheinlich, "zero tolerance" (wohl mit Fokus auf dem "linken" Auge und Blindheit rechts) in einem FP-Innenministerium ab 2013 wäre wohl so etwas wie ein Garant für eine Radikalisierung der Szene, ausgelöst durch Rücksichtslosikkeit und größere Gewaltanwendung seitens der Polizei. Und da "Linksextremismus", wie das ganze schließlich wohl genannt wird, von Rechts vortrefflich als Wahlargument für Rechts ausschlachten lässt, macht diese Variante für FPÖ-PolitikerInnen umso attraktiver und wahrscheinlicher. Bis dahin ziehen jedoch die meisten die Einigelung in ihren Rückzugsorten vor um Konfrontationen auszuweichen, solange es noch geht.

Bis dahin werden die wenigen Ansätze, eine Art "Reclaim the Streets" in Wien durchzuführen, auf zumeist gescheiterte Versuche beschränkt. Etwa eine angekündigte, aber abgesagte Party am Schillerplatz vor der Akademie der bildenden Künste Anfang Juli 2011 oder eine kleine Party am Campus am 30. September 2010, die von einem Straßenfest des Amerlinghauses ausgehen hätte sollen und in der nahe gelegenen Burggasse 2 (ein in seiner 7-jährigen Leerstandsphase bis 2010 beliebtes, da zentrales und Besetzungsobjekt) hätte stattfinden sollen, was nicht gelang und nach langen Verzögerungen mit den verbliebenen Motivierten um 0:30 Uhr auf den Campus verlegt und dort von der Polizei ab 3:30 Uhr brutal aufgelöst wurde (WienTV.org). Dabei wurde gezielt gegen Fotografen und Filmende vorgegangen, auch Hunde ließ man los (die dadurch Verletzten wurden von der Polizei zur Rechtfertigung wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und "schwere Körperverletzung" angezeigt).

Wie groß das Potenzial der Verbindung der Underground-Party-Kultur mit Protestbewegungen wäre, kann man sich angesichts Bilder wie jener der letzten Freeparade in Wien, eine zu 100 % anti-kommerzielle Tanzparade durch ganz Wien, bei der ein gutes Dutzend Freetekno-Soundsysteme 3.000 bis 5.000 Menschen angeheizt hat, nur ausmalen. Dass die Szene nicht per se unpolitisch ist, wie gerne behauptet wird, zeigen nicht zuletzt Transparente gegen den Überwachungsstaat, gegen (die damalige) Innenministerin Fekter, gegen § 278a, gegen Nazis etc.:

Dienstag, 23. August 2011

It's capitalism, stupid! Oder die Unfähigkeit der westlichen Gesellschaft zur Gesellschaftskritik

Schön langsam nervt's echt, dieses "Was ist bloß los mit der Welt?"-Getue überall. Warum krachen die Börsen? Warum können die Staaten ihre Schulden nicht mehr bezahlen? Warum die Menschen auch nicht? Warum sind die Mieten so hoch, die Löhne so niedrig? Warum die Rechten so stark und die Kids in den Wohnsilos so brutal und unanständig?

Dann gehen die Menschen zu Millionen auf die Straßen: in Madrid, Barcelona, Athen, Tel Aviv, London, Lissabon, Vancouver, Stuttgart ... und was tun sie? Sie plappern (zumindest in der "westlichen Welt") genau das gleiche nach: "Ach, wir wissen auch nicht so ganz, was eigentlich los ist. Wir sind halt unzufrieden, aber sollen doch die anderen überlegen, was man besser machen kann."

Die ganze Welt steht vor einem brennenden Wald und protestiert dagegen, aber auf die Idee, ihn zu löschen, kommt niemand!

Dabei liegt doch alles auf der Hand, die ach so schlechten Medien präsentieren täglich neue Zahlen und Statistiken, führen Interviews mit Experten (die sich auch fein raus halten, mehr als nur Symptombekämpfungen vorzuschlagen), machen Reportagen und zitieren aus einschlägiger Weltwirtschaftskrisen-Fachliteratur, um dann am Schluss zum erkenntnisreichen Ergebnis zu gelangen: "Ach ne, sowas blödes aber auch."

Rechts und Links = alles die selbe Scheiße?

Warum ist das so? Ich denke, auch diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: zum einen pure Ahnungslosigkeit und Verblendetheit (Stichwort: Leistungsgesellschaft - wenn sich alle nur genügend anstrengen werden uns "die Märkte" ein schönes Leben besorgen - ergo strengen wir uns derzeit offenbar nicht genug an), zum anderen Feigheit. Feigheit davor, "linkes Gedankengut" auszusprechen. Warum sollte man sich davor scheuen? Ganz einfach! Rechts und links sei ja die selbe Scheiße, wird einem aus der supersauberen Mitte permanent entgegengepredigt, und jeder, der linkes Gedankengut ausspricht, macht sich zum "Ziehvater" des Linksextremismus. So das un(?)ausgesprochene Dogma im Westen. Und überhaupt: Die Begriffe Rechts und Links seien ja sowas von oldschool und aus der Mode, diese einfache Differenzierung von Weltbildern sei in der heutigen komplexen Welt weder möglich noch sinnvoll.

Der unangenehme Nebeneffekt davon ist, das man nur schwer Argumente gegen Rechts vorbringen kann, wenn linke Argumente quasi "verboten" sind. Und wer es doch wagt, vor einer breiten (Medien)-Öffentlichkeit linke Gedanken auszusprechen, der wird eben - ihr habt es erraten - als Kommunist, Träumer, Spinner oder - noch besser! - Terrorist dargestellt. Daran wird sich auch so lange nichts ändern, als die Menschenmassen auf den Straßen sich weigern, Position zu beziehen. Nichtsdestotrotz sind die "apolitischen" (zumindest die Demonstrierenden selbst glauben daran) Demonstrationen überall in der westlichen Welt der erste wichtige und richtige Schritt in die richtige Richtung. Würde jemand zu einer "linken" Demo aufrufen, würden alle Café Latte-Prekariats-Bobos lieber noch ein paar unbezahlte Überstunden drauflegen, als sich darüber zu empören, dass ihre Miete im Vergleich zum Vorjahr um über 30 % gestiegen ist (so der Schnitt in Tel Aviv).

Soweit die Einleitung. Und jetzt kommen die Antworten, auch wenn es ziemlich "uncool" ist, in der heutigen Zeit Antworten auf die brennenden Fragen zu geben - noch dazu, wenn die Antworten so einfach sind. Ich mach es trotzdem, denn wie gesagt, schön langsam wirds mir zu blöd, wenn nach 3 Jahren Wirtschaftskrise zwar schon alles gesagt ist (und immer konkreter wiederholt wird), aber die einzelnen Teile des Puzzles teils absichtlich, teils fahrlässig, nicht und nicht zusammengesetzt werden.

Die Teile des Puzzles zusammensetzen: Rechts und Links unterscheiden

Zuerst einmal noch etwas zu rechts und links. Es ist mitunter erstaunlich, welch treffsichere Analysen und Kommentare sich in österreichischen Zeitungen zur Wirtschaftskrise, ihren Ursachen und Folgen finden lassen - ohne ernsthaft beachtet zu werden (die Gründe dafür hab ich oben bereits erläutert - alles, was nach "links" riecht, wird verteufelt oder zumindest ignoriert). So findet sich im Standard vom 20./21. August d.J. anlässlich von Charles Moores (ein konservativer Journalist des britischen Daily Telegraph) im Feuilleton aufsehenerregenden Zitats ("Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat") ein Verweis auf eben jene "Rechts-Links-Debatte", die bereits vor bzw. seit langem geführt wurde/wird. Dabei wird der Philosoph Norberto Bobbio zitiert, der die Sinnhaftigkeit einer Differenzierung zwischen Rechts und Links auch in der heutigen Zeit betont. In "Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung" fechtet er die Behauptung an, "dass das Links-Rechts-Schema nach Meinung vieler die Realitäten der zunehmend komplexeren Gesellschaften nicht mehr zu erfassen vermochte. Dem hielt Bobbio entgegen, dass ein guter Teil des menschlichen Wissens entlang großer Unterscheidungspaare organisiert ist. Auch Links bzw. Rechts zählt zu diesen 'großen Dichotomien', und an die Sinnhaftigkeit der Links-Rechts-Dyade machte er sich in seinem Buch. Er setzte sich mit der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auseinander, von der Bobbio letztlich doch die wesentlichen Unterschiede in der Dyade herleitet: Rechte Politik orientiert sich an Tradition und Hierarchie, linke Politik an Gerechtigkeit und Gleichheit. Linke Politik zielt auf eine 'horizontale und egalitäre Vision' von Gesellschaft. Dabei kommt es aber sehr auf einen Unterschied zwischen 'natürlicher und sozialer Ungleichheit' an, wodurch eine weitere Facette der Dichotomien erkennbar wird: Links und Rechts stehen jeweils anders akzentuiert Natur und Geschichte gegenüber. Beide Lager entwickeln dabei ständig eine Tendenz zu Extremismen, die sich häufig treffen: Sie sind antidemokratisch, weil sie ihren Standpunkt absolut setzen. Wegen der schlechten Erfahrungen mit den Radikalpositionen tendierten zuletzt fast alle Kräfte zur Mitte." (zitiert aus: "Philosoph Bobbio analysierte die Links-Rechts-Dyade", Der Standard, 19. August 2011, Bert Rebhandl) - dies trifft auch in Österreich auf alle Parteien zu - außer die FPÖ, die weiter nach rechts driftet und damit, wie man sieht, sehr erfolgreich ist. Die einzige Partei, die (vermutlich nicht intellektuell, sondern eher instinktiv) die "richtigen" Schlüsse aus diesen Erkenntnissen gezogen hat. Solange alle anderen Parteien in die Mitte drängen und lieber Speichel und Spindel lecken, anstatt Farbe zu bekennen, wird die FPÖ damit auch weiterhin Erfolg haben, alle Skandale hin oder her.

Und so komplex ist der gesellschaftliche Sachverhalt jetzt auch wieder nicht, als dass man zu oben zitierten Unterscheidungen nicht fähig sein könnte! Also bitte, Leute, mehr Mut zur Erkenntnis!

Also, wo ist das Geld? Na, das wissen wir doch alle!

Und jetzt das eigentliche Thema: Die einfachen Antworten auf die ach so komplexe und unverständliche Welt der Wirtschaft, Politik und sozialen Ungerechtigkeiten ...
Zu den eingangs aufgeworfenen Fragen bezüglich der Ursachen der hohen Verschuldung von Menschen und Staaten, den hohen Mieten, den niedrigen Löhnen etc. muss man ja auch einmal die täglichen Meldungen neuer "Rekordgewinne" bei Banken, Investmentgesellschaften, Großkonzernen, Marken- und Luxusartikelherstellern gegenüberstellen - und man wird sehr sehr schnell und ganz einfach auf jene Gedanken kommen, die den Ausweg aus der permanenten "Krise" anzeigen: Stichwort "Verteilungsgerechtigkeit". Je höher die Gewinne der Unternehmen, desto geringer die Löhne der Arbeitenden. Je höher die Gewinne der Banken, desto höher die Verschuldung der Schuldner.

Was ist also meine "Aufgabe" als Bank, um höhere Gewinne zu machen? Die Schulden der anderen erhöhen! Und wie geht das? Rating-Agenturen! Hierzu der Exekutivdirektor der Europäischen Bank für Wideraufbau und Entwicklung, Kurt Bayer, in seinem Falter-Kommentar mit dem Titel "Entmachtet endlich die Finanzmärkte!" (Falter 32/11, 10. August 2011, S. 6 f.):
"Die Politik rühmt sich ihrer langwierig und unzureichend gefassten Beschlüsse und jammert, dass die gemeinen Finanzmärkte noch immer nicht zufrieden seien. Diese treiben die für Staatsschulden zu zahlenden Zinsen in schwindelnde Höhen und stufen dann Länder als zu risikoreich herab, weil sie ihre Schulden angesichts der hohen Zinsen und des darniederliegenden Wirtschaftswachstums nicht zahlen könnten, und treiben damit die Zinsen noch weiter hinauf: ein Teufelskreis."
Ein von Banken, Investoren und Rating-Agenturen Hand in Hand organisierter, abgesprochener, beabsichtigter und gesteuerter Teufelskreis, wohlgemerkt! Aber um das nicht so konkret auszusprechen sagt man lieber: "Die Märkte"!

eine sehr aufschlussreiche Grafik zur Einkommensverteilung (dargestellt wird der Anteil des bestverdienenden Prozentes der arbeitenden Bevölkerung am Gesamteinkommen eines Landes) liefert ausgerechnet die Neue Zürcher Zeitung ("Einkommenszuwächse nicht nur für die Reichen" NZZ, 2. August 2011, S. 22). Sehr gut kann man hier erkennen, wie nach einer Phase der Angleichung der Einkommensverteilung ab der Reagan/Thatcher-Ära (die die Liberalisierung der Finanzmärkte eingeleitet haben) die Ungleichheit wieder zunimmt. An der Spitze dieser Entwicklung, wenig überraschend, die USA und Großbritannien. Wann kommt es eigentlich in den USA zu den nächsten "Konsumkrawallen"? Wohl nur eine Frage von wenig Zeit ...

(zum vergrößern auf Grafik clicken)

Noch deutlicher wird im Falter ("Staatsverschuldung = Bankrotterklärung", 31/11, 3. August 2011, S. 6 f.) der Ökonom Stephan Schulmeister:
"Mainstream-Ökonomen differenzieren nicht zwischen den unterschiedlichen Interessen von Realkapital und Finanzkapital, ebenso wenig wie zwischen dem unterschiedlichen Verhalten der Akteure auf Güter- und Finanzmärkten. Die Folge: Der neoliberale Mainstream legitimiert mit seinen Modellen die Interessen eines diffusen Gesamtkapitals im Konflikt mit jenen der Arbeit. Hauptfeinde sind: Gewerkschaft und Sozialstaat. Dass die Finanzakrobaten den Interessen der Unternehmen unvergleichbar mehr schaden, bleibt ausgeblendet. Die Entfesselung der Finanzmärkte ist ja ein Hauptziel der neoliberalen Konterrevolution Ende der 60er-Jahre. [...] Die Staatsschuldenkrise in den USA und in Europa signalisiert die finale Phase in der Implosion des Finanzkapitalismus. Erfolgt die Entwertung des fiktiven Staatsanleihekapitals durch Teilbankrott oder Hochinflation (wie regelmäßig in der Wirtschaftsgeschichte), so werden die Folgen ziemlich verheerend sein. Der einzig erträgliche Ausweg - eine grundlegende Änderung der "Spielanordnung" - scheitert an der Lernschwäche der Eliten: Ärzte, deren Therapie Teil der Krankheit ist, verstärken zumeist die Dosis."
ergo: die Implosion ist de facto unaufhaltbar, ja sie beschleunigt sich zunehmend. Nicht, weil es nicht anders ginge, sondern aufgrund massiver grassierender Dumm- und Verblendetheit. Aber besser, die Implosion erfolgt rasch, als dass dieser Kapitalismus noch Jahrzehnte weiter künstlich am Leben erhalten wird. Aufgrund der damit verbundenen Effekte (immer stärkere Verarmung der Massen und steigender Reichtum der Reichsten) wäre dies ohnehin nicht möglich, es würde nur zu Jahrzehnten voller Aufstände und Bürgerkriege (Staatsgewalt, Sicherheitsdienste und Söldner gegen das Volk) führen. Eine Implosion auf dem Papier mit anschließendem Wechsel zu einem tauglicheren "System" statt einer Explosion auf den Straßen wäre sicherlich wünschenswerter. Aber hier spießt es sich und wir kommen zur Anfangsfrage zurück: Was soll sich ändern, wenn sich die Massen weigern, die richtigen Schlüsse aus der aktuellen Kapitalismuskrise zu ziehen und Alternativen zu erarbeiten und aufzuzeigen?

Die Massenproteste im Westen müssen sich politisieren. Es müssen die Grundlagen für die (funktionierende, gerechtere) Organisation der Gesellschaften nach dem fulmninanten Ende des Kapitalismus - und mit ihm die willenlosen politischen Eliten, deren einzige Funktion in den sich nun abzeichnenden "Nachtwärterstaaten" die Unterdrückung der Bevölkerung ist - geschaffen werden. Hierzu muss man sich endlich ernsthaft mit politischen Theorien auseinandersetzen, sei es nun Basisdemokratie, Kommunismus, Anarchismus, Liberalismus, Individualismus, Sozialismus. Dabei muss klar sein, dass Zustände wie die gegenwärtigen - alle arbeiten für den Gewinn weniger - keinesfalls mehr eintreten dürfen. Auf irgendeinen gemeinsamen Nenner wird man sich verständigen müssen, um nach der Implosion des Kapitalismus nicht "versehentlich" wieder einen "neuen" Kapitalismus aufzubauen ...

Dass all das möglich ist, legen viele Zahlen nahe, ein paar Beispiele:
- in Österreich werden so viele Überstunden gemacht, dass dies dem Äquivalent von 150.000 (!) Vollzeit-Arbeitsplätzen entspricht - dadurch würde, so Sozialwissenschafter Bernd Marin, wieder Vollbeschäftigung erreicht werden. (Bern Marin, "Sechs Urlaubswochen?", Der Standard, 20./21. August 2011, S. 15)
- durch die Anhebung des Pensionsalters, die angeblich notwendig ist, um die Pensionen bei steigender Lebenserwartung noch finanzieren zu können, gehen (bei den Jungen) Jobs verloren. Wären Einkommen und Vermögen jedoch gleichmäßig(er) verteilt (Stichwort: Vermögenssteuer, Transaktionssteuer, Erbschaftssteuer und weitere Steuern auf großes Eigentum und Vermögen), müsste nicht nur das Pensionsantrittsalter nicht angehoben werden, auch ein 4-Stunden-Arbeitstag scheint in einer Welt, in der es nicht um Profitmaximierung geht, denkbar.

Donnerstag, 11. August 2011

London Riots 2011 - für Gerechtigkeit ist es jetzt zu spät

Zu den gewalttätigen Krawallen in London gibt es viele Berichte, viele verschiedene Ansichten, Analysen und Kommentare. Die meisten davon fallen in das "Schema F", sind aus der Sicht jener formuliert, die vom gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschafts-System profitieren oder zumindest glauben, dies zu tun. Sie sind Politiker, Unternehmer, Polizisten und Journalisten (jeweils natürlich auch -innen) auflagenstarker Tages- und Boulevardzeitungen. Sie haben gut reden - und können auf die Zustimmung jenes Großteils der Bevölkerung zählen, die sich als Angehörige der Mittelschicht verstehen: Sie haben sich ihre Brötchen und Flachbildfernseher mit harter, zumindest jedoch zeitraubender, Arbeit verdient. Sie haben entsprechend viel zu verlieren - und fürchten dies auch. Sie vertrauen auf einen Staat, in dem die Polizei "hart" erarbeitetes Eigentum schützt und (ebenso hart) verteidigt. Nur wenn sie sich darauf verlassen können, lohnt es sich überhaupt, materielle Güter anzuhäufen. Ihre Reaktion auf die Krawalle ist daher klar: Null Verständnis, null Toleranz. Wenn es den Leuten schlecht geht, dann sollen sie - so die Ratschläge je nach Intelligenz und Differenzierfähigkeit - "einfach" arbeiten oder "meinetwegen" friedlich demonstrieren. Denn wenn mich etwas stört, "darf" ich ja auch nicht einfach das Auto meines Nachbarn anzünden und mit der Rechtfertigung, ich hätte ein beschissenes Leben, auf Verständnis hoffen. Denn: Wenn das alle täten, wo kämen wir denn da hin?

alle sind Mittelschicht - nur nicht "die anderen"

So weit und so nachvollziehbar also die Argumente derjenigen, die glauben, in einer mehr oder weniger funktionierenden demokratischen Gesellschaft zu leben. Sie glauben daran, dass man mit harter und ehrlicher Arbeit im Grunde alles erreichen kann. Klar wissen sie, dass es Leute gibt, die einfach "nur" Bauarbeiter, Müllfrauen, Putzmänner usw. sind und dass es eine große Zahl von Menschen gibt - häufig Zuwanderer und deren Kinder - die in ziemlich armen Verhältnissen leben. Sie wissen es. Aber ihr Mitleid hält sich in Grenzen. Denn in ihrem Weltbild handelt es sich dabei um Leute, die aus irgendwelchen Gründen nicht fähig sind, ihren "sozialen Aufstieg" zu managen. Dass es sich bei diesen Menschen, die man als Unterschicht zu identifizieren glaubt, augenscheinlich vor allem um "Fremde" handelt, ganz gleich, ob schwarz, gelb, braun oder was auch immer (bloß eben nicht weiß), erklärt man sich damit, dass es "offenbar" gewisse kulturelle Barrieren gibt (um es mal gewählt zu formulieren), die die Eingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. den sozialen Aufstieg verhindern. Man reimt sich dann allerhand Dinge zusammen: die Menschen seien halt kulturell anders geprägt, sind von Haus aus eher faul, kommen aus dem Süden, Schwarze seien sowieso kriminell und dealen "gerne" mit Drogen usw. usw. - und damit ist eigentlich schon sehr vieles gesagt, was die "Fronten", die zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen praktisch in der gesamten westlichen Welt (und nicht nur dort) verlaufen, erklärt.

Rassismus & "Multi-Kulti ist gescheitert" vs. Kapitalismus und soziale Realität

Es erklärt beispielsweise den zunehmenden, tief überzeugten Rassismus in nahezu allen europäischen Ländern. Wer jetzt meint, der Rassismus würde nicht zunehmen, da er schon immer vorhanden gewesen sei, der hat möglicherweise ebenfalls recht. Vielleicht ist das, was in den letzten rund zehn Jahren in vielen europäischen Ländern zu sehen ist, keine Zunahme des Rassismus an sich, sondern nur eine Zunahme und Radikalisierung des rassistischen Diskurses. Denn aus den in den obigen zwei Absätzen kurz angeschnittenen gesellschaftlichen und gedankenweltlichen Gegebenheiten leiten viele Menschen auch den "Wahrheitsbeweis" ab, dass "Multikulti" gescheitert sei (so gelesen etwa in diesem britischen Blog hier). Populistische Politiker wissen diesen Umstand sehr gut für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Reaktion der Politik: Feuer mit Feuer bekämpfen

Zum anderen erklärt es das große Unverständnis, aufgrund welchem der "Mainstream" nach harten Reaktionen des Staats ruft, ja sogar nach der Streichung der letzten verbliebenen Sozialleistungen oder den Rausschmiss aus Sozialwohnungen. In der Logik der Menschen, die so etwas fordern, haben die Randalierer aus den Armenvierteln Londons das Vertrauen der restlichen Bevölkerung missbraucht, die ihnen mittels Steuern ja Sozialleistungen, Jugendzentren, Hilfsprogramme usw. zukommen lassen. Nicht wenige meinen nun, es sei rausgeschmissenes Geld, Sozialleistungen an "Kriminelle" auszubezahlen. Eine nicht wirklich schlüssige Schlussfolgerung, für die die entschlossenen Statements David Camerons, es würde sich keinesfalls um politische Proteste sondern nur um "kriminellen Abschaum" handeln, maßgeblich mitverantwortlich ist. Denn die oben angerissene Gedankenwelt eines "Mainstream-Britens" wird durch derartige Aussagen A) bestätigt und B) um weitere sehr gefährliche Elemente bereichert. Denn in der weitgehenden Ratlosigkeit, warum denn diese Krawalle stattfinden würden, knüpft Cameron an bereits bestehende Ressentiments an und verbindet bzw. bestätigt diese mit seiner als Wahrheit dargestellten Behauptung, es handle sich um "kranke" Kriminelle, denen man nur mit Gewalt die Grenzen ihrer "Maßlosigkeit" (!) zeigen könne.

Es bedarf wohl kaum weiterer Ausführungen, in welche Richtung sich alles entwickeln würde, würde man den Armenvierteln der Stadt auch noch die letzten staatlichen Zuwendungen entziehen. Die Frage, wozu die Unterschicht überhaupt Steuern bezahlen soll (ja, Mehrwehrtssteuer, Mineralölsteuer und viele andere lustige Dinge bezahlen alle!), wird ja schon jetzt gestellt - von einer Bevölkerungsgruppe, die von der Hand in den Mund leben muss und als einzige staatliche Leistung jene erfahren kann, dass die Polizei "routinemäßig" dunkelhäutige Teenager in aller Öffentlichkeit filzt und beschimpft. Tag für Tag! Oder wie es der Quartier-Bewohner und Schriftsteller Darcus Howe nennt: sein Enkel zählt schon gar nicht mehr, wie oft er an einem einzigen (!) Tag von der Polizei gef**** wird:



So weit also der Mainstream-Diskurs über die Krawalle in einer Art Zusammenfassung, ohne auf (x-beliebige) Beispiele aus der Boulevard-Presse, Politiker-Zitate etc. einzugehen - das gibt es - wie gesagt - eh im Mainstream, überall, zu hören, lesen und zu sehen. Bloß dieses Video, bei dem man mehr hört als sieht und das den unmittelbaren Auslöser der Krawalle darstellen soll, wird erstaunlicherweise seit dem zweiten Tag der Proteste gar nicht mehr erwähnt. Die Krawalle hätten plötzlich im Anschluss an die friedliche Demo völlig unvermittelt begonnen. Glaubt man jedoch den Behauptungen von Augenzeugen, die zumindest im Guardian Live-Blog anfangs noch Gehör fanden, eskalierte die Gewalt erst nachdem ein 16-jähriges Mädchen nach einem sicherlich nicht schönen, aber letztlich verbalen Wortgefecht, von einer Horde Polizisten (im Video zu sehen) niedergeprügelt wurde. Am Ende des Videos hört und sieht man noch, wie immer mehr Leute total aufgebracht Richtung Polizei laufen. Dann endet des Video. Die nächsten Videos zeigen dann schon, wie Polizeifahrzeuge zerlegt werden. Kennt man die Vorgeschichte, ist das alles andere als überraschend oder gar unpolitisch.

der unmittelbare Auslöser der Krawalle: Polizei verprügelt im Anschluss an friedliche Demo gegen den Polizeimord an Mark Duggan ein 16-jähriges Mädchen:

Und jetzt zum eigentlichen: Natürlich sind diese Krawalle kein zufälliger "Gang Bang" (wenn man so will) eines riesigen Haufens Krimineller die in ihren Kriminellen-Wohnungen in Kriminellen-Vierteln leben. Natürlich ist es ein "Skandal" (ein leider bereits viel zu abgenutztes und daher längst zu schwaches Wort, um so etwas zu beschreiben), wenn Zitate eines demokratisch gewählten europäischen Premierminister kaum mehr von jenen eines beliebigen arabischen Despoten oder von Erwin Pröll unterschieden werden können, wenn man die gesamte britische Unterschicht, die den Wohlstand, von dem verhätschelte Kinder wie David Cameron zehren, überhaupt erst möglichen, pauschal als "Abschaum" und "kriminelles Pack" bezeichnet. Ein Skandal deshalb, weil diese eskalierende "Kriminalität", wie der Mainstream es nennt, ja aus dem Zentrum der britischen Gesellschaft entspringt. Und wer sonst, wenn nicht die Gesellschaft und ihre demokratisch gewählten Repräsentanten, ist für den Zustand dieser Gesellschaft verantwortlich?

Dass eine derartig dreiste Lüge und Diffamierung nicht als Skandal gewertet wird, ist wohl einzig dem Umstand zu verdanken, dass es - wie oben ausgeführt - für eine breite Mehrheit der Gesellschaft konsensfähig ist, dass es "offensichtlich" um importierte Kriminalität, verkörpert durch die Kinder der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten, handeln "muss". Das erklärt dann wiederum, wie Thesen wie jene Thilo Sarrazzins, bei Moslems gebe es eine Art genetisch vererbte Dummheit, überhaupt auf so große Akzeptanz stoßen. Die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte hat den (jeweils) Einheimischen vielfach die "Drecksjobs" abgenommen. Aber statt als "neue Unterschicht" werden diese Menschen nun als "zurückgebliebener Haufen" wahrgenommen - während man sich selbst als vorbildliches Beispiel des sozialen Aufstiegs versteht. Ein sozialer Aufstieg, der durch Zuwanderung ermöglich wurde und der statt mit Dank mit Hass und Rassismus beantwortet wird. Und jeder, der weiß, wie es ist, wenn man statt Dank für seine harte und kaum entlohnte Arbeit auch noch Hohn, Spott oder gar Hass zu spüren bekommt, der kann sich ausmalen, wie man sich in so einer Lage fühlen muss. Wenn sich das ganze auch noch Jahrzehnte hinzieht, ohne Aussicht auf Aufstieg oder Besserung, dann kann man sich nur wundern, dass derartige Aufstände nicht öfter stattfinden und heftiger ausfallen.

It´s Neoliberalism - stupid!

Dass die Aufstände, die scheinbar wahllos und ohne Rücksicht und noch dazu in der eigenen Nachbarschaft alles zerstören, plündern und in Brand stecken, Ausdruck der massiven sozialen Ungleichheit in Großbritannien sind, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Das ohnehin schwache Sozialsystem der Briten, das eher jenem der USA als jenem Festlandeuropas ähnelt, wird seit über einem Jahr weiter demontiert. Und das ohne jegliches Maß und Rücksicht. Die herablassende und zutiefst entwürdigende Wortwahl von David Cameron und Nick Clegg ist bei dieser Politik, die Studiengebühren verdreifacht und Sozialleistungen radikal kürzt oder streicht, gar nicht mehr verwunderlich. Sie steht für die tiefe Entfremdung der Lebenswelt der britischen Elite von jener der armen Massen. Und es handelt sich dabei keineswegs um unerforschte oder unbekannte Entwicklungen. Im ganzen Medien-Blabla haben es manche Medien tatsächlich vollbracht, ausgewiesene Experten nach ihrer Einschätzung zu befragen. Für die in Großbritannien lebende Soziologin Saskia Sassen spricht die Politik "die Sprache der Tyrannei" (Der Standard), und Soziologe Richard Sennett erklärt dem Spiegel, "warum die britische Gesellschaft viele junge Leute isoliert und kriminalisiert." Der Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Ausgrenzung und den Krawallen von 6. bis 9. August in London wird auf dieser präzisen London-Karte des Datenjournalisten Matt Stiles: betroffen waren fast ausnahmslos die Armenviertel der Stadt:


Also schloss man in London erst unlängst zahlreiche Jugendzentren, die für viele mittellose Kids und Teenager der Wohnblocks in den ärmeren Stadtteilen der einzige soziale Treffpunkt abseits der Straßen war. In einem Video-Beitrag des Guardian meinten Betroffene schon damals, dass dies fürchterliche Folgen haben könnte. "There will be riots" meinte einer etwa:



Aber wer neoliberal denkt und für den Vorteil Weniger zulasten Vieler handelt, kümmert sich keinen Deut um Beschwerden oder Proteste betroffener. Das hat sich bei den sowohl friedlichen als auch gewalttätigen Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 gezeigt. Wenn dann auch noch die black community gegen Polizeigewalt und -willkür protestiert, findet das in der Medienberichterstattung erst gar keinen Widerhall. Als ob sie in einer anderen Welt leben würden. So geschehen im März 2011 nach dem Tod von Smiley Culture, einem bekannten (und schwarzen) Reggae-Musiker und DJ. Er starb an den Folgen von Verletzungen bei einer Polizei-Razzia in seiner Wohnung südlich von London. Es gab eine große, aber friedliche Demonstration in London, von der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen. Und es war nicht das erste Mal, das ein Schwarzer in London von Polizisten getötet wurde. Rechtliche Folgen hat so etwas jedoch nie. Seit 1998 kamen 333 Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Kein einziges Mal wurde ein Polizist dafür verurteilt, obwohl es an umstrittenen Todesfällen nicht mangelt (vgl. Kopfschuss-Hinrichtung eines Mannes in der Londoner U-Bahn 2005). Und dann ist es wieder mal so weit: am 4. August erschießt die Polizei bei einer Fahrzeugkontrolle einen vierfachen, 29-jährigen, schwarzen Familienvater. Die Sparmaßnahmen, etwa durch die Schließung von Jugendzentren und die Beendigung von Sozialprogrammen, haben zu diesem Zeitpunkt längst "gegriffen". Der Dampfkochtopf explodiert. Für Gerechtigkeit oder die Erwartung moralisch richtiger Handlungen ist es hier zu spät.

Die Frage "Is rioting the correct way to express your discontent?" liegt aus all diesen und noch vielen Gründen mehr für viele Jugendliche in den betroffenen Stadtteilen Londons auf der Hand: "Yes. You wouldn't be talking to me now if we didn't riot, would you?"

siehe auch:
- zurpolitik.com:
Eine Busfahrt durch Tottenham
- zurpolitik.com: London wird weiter brennen
 
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